Es ist ein Freitagvormittag im August, als in der Kleinstadt Marx an der Wolga Deutsche und Russen so gute Freunde zu werden versuchen, dass noch ihre Kinder und Kindeskinder etwas davon haben. Sie sitzen sich in der Kreisverwaltung am zentralen Platz des Ortes gegenüber, vis-à-vis von der lutherischen Kirche. Die hat ein Mäzen wieder herrichten und mit einem Kirchturm versehen lassen, so dass sie sich – zu Sowjetzeiten verstümmelt und zweckentfremdet – endlich wieder ähnlich sieht. Und das, obwohl es gar nicht mehr sehr viele Lutheraner gibt in Marx, das 1766 von deutschen Kolonisten gegründet wurde und einst Katharinenstadt hieß. Vor dem Zweiten Weltkrieg stellten die Wolgadeutschen hier über 86 Prozent der Bevölkerung, doch dann wurden sie 1941 hinter den Ural deportiert. Heute liegt der Anteil ihrer Nachfahren bei ungefähr zehn Prozent. Da ist es schon ein kleines Wunder, dass ihre Kirche in neuem Glanz erstrahlt. Ob nun nebenan etwas ähnlich Unglaubliches gelingt?
Die Deutschen sind durch halb Europa hierher gereist, eine bunte Truppe aus dem Kreis Coesfeld in NRW, Menschen aus, wie man so schön sagt, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Sie haben auf ihrer Fahrt schon Wolgograd und den Soldatenfriedhof Rossoschka besichtigt, das Heimatmuseum von Marx besucht und an Veranstaltungen zum 100. Jahrestag der wolgadeutschen Autonomie teilgenommen. Man schwärmt von der Herzlichkeit der Bevölkerung, menschlich ist man längst miteinander warm geworden. Aber die Deutschen sind nicht nur hier, um Land und Leute kennen- und schätzen zu lernen. Sie wollen zusammen mit ihren Gastgebern die Möglichkeit einer Partnerschaft zwischen dem Kreis Marx und dem Kreis Coesfeld ausloten. Da geht es um Nutzen. Und deshalb muss nun der Funke überspringen.
Der Landrat von Marx, Dmitrij Romanow, hat Vertreter der Wirtschaft dazugeholt. Einer nach dem anderen stellt sein Unternehmen vor. Tenor: Es geht uns soweit ganz gut und seit den Sanktionen noch besser. Aber wer wäre schon gegen eine Partnerschaft mit den Deutschen? Die Frage ist nur, was das eigentlich in der Praxis bedeuten soll: Partnerschaft.
Es sitzen ein Saatgut- und ein Sonnenblumenöl-Produzent, ein Hersteller von Stromzählern und der Chef der örtlichen Brauerei, die 18 Biersorten im Programm hat, mit am Tisch. Höflich und interessiert beantworten sie auch Nachfragen. Das geht ungefähr eine Stunde so, dann ergreift Werner Jostmeier zum wiederholten Mal das Wort. Jahrgang 1950, hat er 22 Jahre für den Kreis Coesfeld im nordrhein-westfälischen Landtag gesessen, wo er sich auch um die internationalen Kontakte kümmerte. Jostmeier hat im Vorfeld bei den Parteien in seiner Heimat für die Partnerschaft mit Marx geworben. Noch die wohlwollendste Reaktion kam aus seiner eigenen Partei, der CDU, wo man sich mit dem Gedanken zumindest beschäftigt hat, aber fand, man habe eigentlich genug damit zu tun, existierende Städtepartnerschaften zu pflegen, damit sie nicht nur auf dem Papier existierten. Russland sei doch so weit weg, wie solle das denn funktionieren, die Beziehungen mit Leben zu erfüllen?
Das ist bei aller Politik natürlich ein berechtigter Einwand, aber Jostmeier lässt so leicht nicht locker. Er meint, dass man sich dort, wo er herkommt, 40, 50 Jahre „nach Westen orientiert“ hat. Seit der Wiedervereinigung dürfe man nun ruhig auch den Blick nach Osten weiten. Und wenn das nicht in Form offizieller Kontakte passieren könne, dann eben eine Ebene tiefer: der Handwerksbetrieb mit dem Handwerksbetrieb, das Krankenhaus mit dem Krankenhaus und so weiter. An gutem Willen fehlt es jedenfalls nicht.
Aber nun fragt Jostmeier in die Runde: „Wie stellen Sie sich denn eine Zusammenarbeit vor?“ Und es tritt eine beredte Stille ein. Was könnte man sich wohl gegenseitig Gutes tun? Müsste man dafür nicht erst einmal viel mehr übereinander wissen? Und sich viel detaillierter austauschen, wiederum: der Fachmann mit dem Fachmann? So bleibt es letztlich bei den Vorschlägen, die Jostmeier mit in die Sitzung gebracht hat. „Laden Sie doch jemanden von uns zu Projekten ein“, heißt der erste. Praktikanten könnten die umgekehrte Richtung nehmen. Und dann soll ein Gegenbesuch für den Herbst 2019 in Coesfeld vorbereitet werden.
Der Direktor der Brauerei, ein freundlicher Mann in mittleren Jahren mit Namen Dschemal Giorgadse, sagt im Rausgehen, er sehe sich nicht in einer möglichen Delegation. Seinen Betrieb habe er ohnehin unlängst mit deutschen Partnern modernisiert und damit die Produktion vervierfacht. Auf internationale Messen fahre er auch, um dort Menschen aus der Branche zu treffen. Von einer Reise in den deutschen Westen scheint er sich aus seiner geschäftlichen Sicht nicht viel zu versprechen.
Dabei ist der Kreis Coesfeld, das sollte nicht unterschlagen werden, eine Musterregion mit vielen erfolgreichen Familien- und Handwerksbetrieben und einer der geringsten Arbeitslosenraten in Deutschland (2,6 Prozent). Gleichzeitig betonen die deutschen Gäste in Marx, dass eine eventuelle Partnerschaft keine Einbahnstraße werden solle. Auf keinen Fall wollen sie als Besserwisser rüberkommen, sind neugierig, interessiert, erkundigen sich immer wieder: Wie macht ihr das hier?
Vieles ist dann schon sehr anders. Der Landwirt Franz-Josef Ermann hat einen Bauernhof, der seit 500 Jahren in Familienbesitz ist, und bewirtschaftet heute 120 Hektar Land. Beim Saatgut-Produzenten aus Marx sind es nach 30 Jahren 12.000 Hektar. „Solche Größenordnungen sind für uns vorstellbar“, sagt Ermann.
Als die Deutschen mit vielen positiven Eindrücken wieder abgereist sind, beschließt man in Marx, die Partnerschaftspläne weiterzuverfolgen. Wasserwirtschaft und medizinischer Notdienst könnten etwaige Schwerpunkte sein. Man geht es langsam an.
Tino Künzel