„Ausländischer Agent“: Wie „Meduza“ ums Überleben kämpft

Jetzt auch „Meduza“: Mit der aus Lettland für den russischen Markt produzierten, vielgelesenen und vielzitierten Internetzeitung ist ein prominentes Medium Ende April in Russland als „ausländischer Agent“ klassifiziert worden und damit unter Druck geraten. Was heißt das im Einzelnen? Fragen und Antworten.

„Agent“ klingt nach „Spion“ und soll es wohl auch. (Foto: Mediautopia)

Was ist das überhaupt – ein „ausländischer Agent“?

So bezeichnet der Gesetzgeber in Anlehnung an den Foreign Agents Registration Act von 1938 in den USA juristische und natürliche Personen, die vorgeblich ausländische Interessen auf dem Gebiet Russlands vertreten.

Was beziehungsweise wer fällt unter diese Bezeichnung?

Die Einstufung nimmt das russische Justizministerium vor. Betroffen sind Organisationen und Personen, die sich im weitesten Sinne politisch betätigen und Gelder aus dem Ausland beziehen. Als politische Tätigkeit können dabei schon Veröffentlichungen auf der eigenen Webseite gelten. Auch was als ausländische Finanzierung gilt, ist eine Frage der Interpretation. Zu einer konkreten und detaillierten Begründung seiner Entscheidungen verpflichtet ist das Justizministerium nicht.

Das Gesetz wurde zunächst – ab 2012 – auf Nichtregierungsorganisationen angewendet. Den Stempel des „ausländische Agenten“ bekamen vor allem NGO aus dem zivilgesellschaftlichen Bereich aufgedrückt. Beispiele sind etwa die Menschenrechtsorganisation Memorial, das Moskauer Sacharow-Zentrum oder das Lewada-Meinungsforschungsinstitut.

Seit 2017 können auch Massenmedien zu „ausländischen Agenten“ erklärt werden, wenn sie einer ausländischen juristischen Person gehören und über ausländische Finanzquellen verfügen. Dabei kann es sich unter anderem um Werbung, Fördergelder oder Spenden handeln. De facto kann jedes ausländische Medium, das seine Zielgruppe in Russland hat, ins Visier der Behörden geraten. Im vorigen Jahr wurden erstmals auch natürliche Personen – russische Staatsbürger – im entsprechenden Register des Justizministeriums als „ausländische Agenten“ ausgewiesen. Grundlage dafür war eine Zusammenarbeit mit Medien-„Agenten“ und der Empfang ausländischer Gelder, also beispielsweise eines Honorars.

Was bedeutet dieser Status für die Betroffenen?

Sie würden in ihrer Arbeit nicht eingeschränkt und könnten sie ungehindert fortsetzen, argumentieren die Fürsprecher des Gesetzes gern. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn die Betroffenen müssen nicht nur umfangreiche Auflagen hinsichtlich von Rechenschaftsberichten an das Justizministerium erfüllen, sie haben sich auch in all ihren Veröffentlichungen als „ausländische Agenten“ zu deklarieren. Ansonsten drohen empfindliche Geldstrafen bis hin zu einer strafrechtlichen Verfolgung oder bei Medien einer Sperrung in Russland. Wie die Markierung auszusehen hat, ist in Text, Platzierung und Schriftgröße bis ins Detail geregelt. Bei journalistischen Beiträgen muss der Vermerk direkt unter der Überschrift erfolgen. Auf den „Agenten“-Status hinzuweisen, obliegt im Übrigen auch nicht selbst betroffenen Medien, wenn sie zum Beispiel „Meduza“ zitieren, ansonsten machen sie sich strafbar.

Wie reagieren die „Agenten“?

Für viele ist die Behauptung, sie stünden im Dienst fremder Mächte, absolut inakzeptabel, irreführend und demütigend. Sie kommt einem Rufmord gleich, gegen den sie sich nach Kräften wehren. Die Erfolgsaussichten vor russischen Gerichten sind dabei überschaubar. Anfang Mai lehnte ein Gericht in Pskow den Einspruch der dort ansässigen Journalistin Ludmilla Sawitzkaja gegen das Label des „ausländischen Agenten“ ab. Sie schreibt unter anderem für „Radio Swoboda“ und hatte ihre Artikel in sozialen Netzwerken geteilt. Dem „Kommersant“ erklärte sie: „Man nennt mich einen ausländischen Agenten und sagt nicht, wofür, sagt nicht, welches Landes. Das hätten sich weder Orwell noch Kafka oder andere träumen lassen.“

Wie geriet „Meduza“ in dieses Räderwerk?

In Russland machte das Zitat einer Quelle aus der Präsidialadministration die Runde, wonach es sich um eine Retourkutsche für das Vorgehen lettischer Behörden gegen russische Staatsmedien handele. „Meduza“ wurde 2014 gegründet und hat seinen Sitz in Riga, der Hauptstadt Lettlands. Treibende Köpfe hinter dem Projekt sind Galina Timtschenko, die langjährige ehemalige Chefredakteurin von Lenta.ru, und Journalisten des Portals, die ihr folgten, als sie dort 2014 entlassen wurde. „Meduza“ hat sich in relativ kurzer Zeit als unabhängiges Medium auf dem russischen Markt etabliert. Laut Medialogija war die Internetzeitung im März dieses Jahres, dem letzten Monat vor ihrer Klassifizierung als „ausländischer Agent“, das meistzitierte russischsprachige Online-Medium in den sozialen Netzwerken und landete bei den „klassischen“ Medien auf Platz 16.

Was macht den Fall so besonders?

Das Justizministerium führt in seinem Register aktuell 15 Medientitel und fünf Personen als „ausländische Agenten“. Jüngster Zugang ist das Online-Wirtschaftsblatt „VTimes“, gegründet 2020 in den Niederlanden von ehemaligen Mitarbeitern der Zeitung „Wedomosti“, bei der nach einem Eigentümerwechsel und der Installation eines neuen Chefredakteurs ein Großteil der alten Mannschaft gekündigt hatte. Die Mehrheit der Medien auf der Liste wird jedoch tatsächlich und ganz offiziell von einem ausländischen Staat finanziert, nämlich den USA. Das trifft auf „Voice of America“, „Radio Swoboda“ und dessen russische Projekte zu. „Meduza“ macht dagegen geltend, sich ausschließlich den Interessen seiner Leser verpflichtet zu fühlen und sein Budget mit Werbung zu bestreiten. Da auch Anzeigen von „ausländischen Agenten“ gekennzeichnet werden müssen, sind der Zeitung nach eigenen Angaben aber auf einen Schlag praktisch alle Werbekunden weggebrochen. Man sei damit „toxisch“, hieß es auf der Webseite, und müsse damit rechnen, dass auch die journalistische Arbeit künftig schwerer würde, etwa bei Kontakten mit staatlichen Stellen oder bei der Suche nach Experten, die Sachverhalte kommentierten.

Was unternimmt „Meduza“?

Die Zeitung hat ihre Ausgaben radikal gekürzt, sich unter anderem von Büros in Riga und Moskau getrennt, die Gehälter um 30 bis 50 Prozent reduziert. Auf der Einnahmenseite setzt man auf Crowdfunding als einzigem Ausweg. Zuletzt berichtete die Redaktion, innerhalb der ersten zwei Wochen seit Beginn der Kampagne hätten bereits 80.000 Leser Geld gespendet. Damit sei zumindest die unmittelbare Zukunft gesichert. Außerdem hat „Meduza“ Klage gegen die Entscheidung des Justizministeriums eingereicht. Die Gerichtsverhandlung in Moskau ist für den 4. Juni angesetzt.

Was sagt man im Kreml?

Angesprochen auf die drohende Schließung von „Meduza“, meinte Kremlsprecher Dmitrij Peskow, auf dem heutigen Informationsmarkt sei das Verschwinden jedes beliebigen Mediums „kaum zu spüren“.

Tino Künzel

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