Es waren gleich mehrere russische Regionen, aus denen Anfang Februar der Ausbruch der Masern gemeldet wurde. Neben der Kaukasus-Republik Dagestan und dem Gebiet Wladimir traf es auch Moskau, wo mehrere Schulen wegen der Infektionskrankheit geschlossen wurden. Schuld seien Kinder gewesen, die nicht geimpft waren, heißt es aus dem Gesundheitsministerium. Russische Medien sprechen bereits von den Vorboten einer Epidemie. Nach Angaben des Föderalen Dienstes für die Aufsicht im Bereich Verbraucherschutz und Schutz des menschlichen Wohlergehens Rospotrebnadsor wurden im Januar 2019 2538 Fälle von Masernerkrankung registriert. Im Januar 2018 waren es noch 725. Mit diesem Anstieg steht Russland nicht alleine da. Wie die Weltgesundheitsorganisation WHO Anfang Februar alarmiert mitteilte, hat sich die Zahl der Masernerkrankungen im vergangenen Jahr in Europa verdreifacht.
Russland steht im Vergleich gut da
Dabei sind die Voraussetzungen für den Ausbruch von Krankheiten in Russland eigentlich schlecht. So empfiehlt die WHO, dass 95 Prozent der Bevölkerung geimpft sein sollen, damit eine „kollektive Immunität“ entsteht und den Viren damit der Boden für die Verbreitung genommen wird. In Russland liegt der Impfgrad gar bei 97 Prozent und damit weit höher als in den meisten Ländern der Welt. Dennoch beobachten Forscher und Mediziner, dass die Zahl der geimpften Russen in den vergangenen Jahren rückläufig ist. Das Nationale Medizinforschungszentrum für Kindesgesundheit sprach 2017 auf einer Konferenz gar davon, dass fast die Hälfte aller Neugeborenen 2016 nicht umfangreich und entsprechend des russischen Impfkalenders immunisiert sei.
Dass die Zahl der Impfgegner mit jedem Jahr zunimmt, hat auch Kinderärztin Jelena Keschischjan bemerkt. Noch sei die Bewegung zwar in der Gesellschaft nicht wirklich bemerkbar, aber sie versuche, eine Welle loszutreten, so Keschischjan gegenüber dem Nachrichtenportal „Medialeaks“. Plattform für die Impfgegner ist das Internet. So tauschen sich im sozialen Netzwerk „Vkontakte“ Bürger darüber aus, welchen Schaden Impfungen für Leib und Leben von Kindern bedeuten. Falschinformationen, zum Beispiel, dass Impfstoffe Blei enthalten würden, finden hier breites Gehör. Die Gruppe „Wahrheit über Impfungen“ geht gar soweit, in Impfungen das „Böse“ der Gesellschaft zu sehen und von einem gezielten „Auslöschen“ zu sprechen.
Weitverbreitetes Misstrauen
Auch wenn die im Internet aufgestellten Behauptungen nicht stimmen, zeigen sie dennoch Wirkung. So gibt es ein grundlegendes Misstrauen gegenüber den russischen Behörden. Und auch die Impfstoffe, die die Kinder bekommen, werden kritisch betrachtet. Im Interview mit der Internetzeitung „Lenta“ erklärt Kinderärztin Tatjana Dubrowskaja, dass vor allem russische Präparate keinen guten Stand bei den jungen Eltern haben. Viele ihrer Patienten glauben, dass der kindliche Organismus diese schwerer verarbeite und es dadurch häufiger zu Komplikationen komme. Dennoch sieht sie in den Eltern keine Impfgegner. Denn man müsse sie gar nicht von der Impfung überzeugen, sondern oft einfach nur überreden. Dabei helfe es oft schon, wenn man als Ersatz einen importierten Wirkstoff anbiete, auch wenn der teurer ist, so Dubrowskaja. Religiöse Gründe spielen hingegen, im Gegensatz zu früher, keine Rolle bei der Ablehnung von Impfungen. Auch die Russisch-Orthodoxe Kirche spricht sich seit Jahren für die Immunisierung der Kinder aus.
Die Reaktion der russischen Regierung auf die sinkende Zahl der Impfungen war lange Zeit verhalten. Zwar sprach Präsident Wladimir Putin im März 2018 in einem Fernsehinterview davon, dass er durchaus die Mode beobachte, nicht zu impfen. Etwas unternehmen wollte er aber nicht. Denn auch in Russland ist die Impfung freiwillig. Aber die Häufung der Infektionen in diesem Jahr hat die offiziellen Stellen reagieren lassen. So schlug das Justizministerium im Februar vor, Internetseiten, auf denen gegen Impfungen agitiert wird, zu sperren. Und Mitte April empfahl das Bildungsministerium, zum Wohl der Allgemeinheit, Kinder ohne Impfungen nicht in Schulen zu lassen, um das Grundrecht auf Bildung nicht zu gefährden. Stattdessen sollen sie zu Hause lernen.
Daniel Säwert