Moskaus letzte Holzhaus-Insulaner

Aktuell stehen die fünfgeschossigen „Chruschtschowkas“ kurz vorm Abriss. Doch Moskau hat noch mehr und noch ältere Siedlungen, wo die Zeit scheinbar stehen geblieben ist. Aber auch sie sind vom städtebaulichen Wandel bedroht. Ein Porträt einiger dieser eigenwilligen Stadtbewohner.

Sie sind eine Seltenheit, aber sie gibt es (noch): traditionelle Wohn-Häuschen in der Enge der Großstadt. In Moskau zum Beispiel in Sokol. / Foto: Anastassija Buschujewa.

Moskau ist laut, schnell und stickig. Doch es gibt auch Orte der Ruhe und Idylle, sogar in Zentrumsnähe: kleine Holzhäuser, die im Grün ihrer Gärten regelrecht versinken. Morgens kommen ihre Bewohner heraus, um sich ausgiebig im Vorgarten zu dehnen, unter freiem Himmel zu frühstücken, ihre Wäsche auf der Leine trocknen zu lassen und sogar um Ziegen und Hühner zu züchten. Doch das Paradies bekommt langsam Risse: durch Druck von der Stadt und Unverständnis seitens der Moskauer, die in Hochhäusern leben. Das gleichmäßige, fast ländliche Leben wird vom Tempo der Stadt kontrastiert.

Ein Beispiel hierfür ist die Gartenstadt Sokol (russisch für Falke). Sie liegt nur zehn Kilometer vom Kreml entfernt im Nordwesten der Stadt. Der Ort entstand 1923 als erste „Wohnkooperation“ Moskaus. Die Bewohner hatten das Glück, nicht nur eine Wohnung, sondern auch einen eigenen Garten zu bekommen. Sokol wurde von führenden sowjetischen Architekten entworfen. Die experimental-künstlerischen Wurzeln der Gartenstadt liegen aber in England. Der Soziologe und Utopist Ebenezer Howard schrieb bereits 1896 seine Vision von der „Stadt der Zukunft“ nieder. Das Ziel der sowjetischen Bauplaner war es dann, dem neuen sowjetischen Menschen ein Maximum an ästhetischem und psychologischem Komfort zu bieten.

„Wir existieren wie ein Einzelstaat“

Ein solch idyllscher Ort ist attraktiv in einer Stadt, in der Wohnraum knapp und jeder Quadratmeter teuer ist. So kam es, dass mehrmals der Versuch unternommen wurde, den Sokolanern das Land wegzunehmen. Doch während der Perestrojka erkämpften sie sich das Recht auf Selbstverwaltung. Seitdem berichten die Einwohner, dass sie die Feindseligkeit der Stadtverwaltung spüren. Die Gartenstadtbewohner können sich nur versorgen, indem sie freie Immobilien vermieten. Ein Teil der Einnahmen geht dann direkt an Anwälte. „Wir existieren wie ein Einzelstaat, wie der Vatikan. Uns rettet nur der Beschluss eines Gerichts, der uns vor neuen Gesetzesänderungen schützt“, erklärt Wladimir Sluzkij, Vorstandsvorsitzender der Genossenschaft „Sokol“. Sobald aber der Status des Denkmalschutzes durch den eines Erinnerungsortes ersetzt werde, könne die Stadtverwaltung die Siedlung niederreißen. Und dann in einem Neubaugebiet eine Gedenkplatte aufstellen. Doch das 21 Hektar große Dorf lebt trotz aller Kleinkriege weiter in seinem wilden Grün. In sehr vielen Häusern wohnen mittlerweile reiche Bauherren.

Laut Sluzkij sind rund 40 Prozent der Gartenstadtbewohner Millionäre, die Gebrauch von öffentlichen Geldern machen und die alten Holzhäuser in moderne Stadtvillen umbauen lassen. Ein mittleres Häuschen kann hier schon mal 215 Millionen Rubel kosten. Manche aber wollen aus Prinzip nicht verkaufen, berichtet Sluzkij. Manche könnten sich mit den Wohnungsnachbarn    –    viele der alten Holzhäuser funktionieren noch wie frühere „Kommunalki“, in ihnen leben also nebeneinander mehrere Wohn-Parteien – nicht auf einen Preis einigen.

Jekaterina Sluzkaja ist in der Gartensiedlung geboren. Sie erzählt, dass viele Nachbarn, wenn sie Lagerfeuer im Garten sähen, sogar die Polizei riefen. Da kann die ältere Dame aber nur lächeln. Auch Nachbarin Inna Runkowskaja bestätigt, dass sie von Moskowitern aus Hochhäusern oft skeptisch beäugt werde. Vor dreißig Jahren noch seien sie gaffend an den Zaun gekommen und fragten voller Neugier, ob es in den Häusern denn überhaupt Toiletten und Waschräume gebe. „Heute kann man dagegen im Trolleybus hören: ‚Wann reißen sie denn endlich die Bourgeoisie da drüben ab?‘“, so Runkowskaja.

Keine normalen Moskauer

Jedes dieser Holzhäuser birgt interessante Geschichten, die mehr über Moskau verraten als ein Museum. Auch die Siedlung Solomennaja Storoschka ist solch ein ungeschliffenes Juwel. Sie liegt rund einen Kilometer von der Metrostation Timirjasewskaja entfernt und entstand schon in den 1860er Jahren. Um die Ausgaben für den Bau der ersten russischen landwirtschaftlichen Universität zu begleichen, hat die Stadtverwaltung Grundstücke verpachtet. Nach der Revolution verwandelte sich diese Siedlung in eine Genossenschaft. Hier ließen sich Mitarbeiter und Gelehrte der Universität nieder, eine intellektuelle Schicht von Moskauern. Nach dem Krieg wohnte und arbeitete hier beispielsweise Jewgenij Wutschetitsch, der Bildhauer der Kolossalstatue „Mutter Heimat“ im südrussischen Wolgograd. Bis heute leben seine Nachkommen in dem Haus. Auf dem Grundstück können Passanten sogar einen Modellkopf der „Mutter Heimat“ erspähen.

„Ich wurde zu einem ‚Bewerbungsgespräch‘ eingeladen, wurde über Kunst, Literatur und Geschichte gelöchert“

Anders als die Gartenstadt Sokol ist Solomennaja Storoschka kaum erforscht. Die Bewohner wollen und sollen nicht über sich informieren. Dabei ist es offensichtlich, dass dort keine „normalen“ Moskauer wohnen. Iwan Petrow mietete hier einst ein Haus. Eigentlich heißt Iwan Petrow anders, die Redaktion musste seinen Namen ändern, weil der junge Mann eine Schweigepflicht unterschreiben musste. „Ich wurde zu einem ‚Bewerbungsgespräch‘ eingeladen, wurde über Kunst, Literatur und Geschichte gelöchert“, berichtet er. Die Besitzer wählten ihre Mieter also ganz offensichtlich mit Bedacht aus. Bis heute sollen hier rund 50 Prozent derjenigen Familien leben, die in den 30er Jahren Häuser erhielten, manche sogar noch persönlich von Stalin.

Die Glückskarte zog aber Marija Wischnjewskaja. Sie lebt in einem zweigeschossigen Holzhaus, Baujahr 1883, nicht weit von der Metro Poljanka. Wie durch ein Wunder blieb das Haus während der Sowjetzeit im Privatbesitz des Professors Nikolaj Petuchow. Er schenkte das Haus seinem Freund Feliks Wischnjewskij. Einen Flügel verwandelte der Kollektionär dann in ein Museum, wo die Werke des Künstlers Wassilij Tropinin gezeigt werden. Im anderen Flügel lebt die Familie bis heute und kann bei jedem Besuch ihre Gäste begeistern. Doch hinter der schönen und gepflegten Fassade steckt viel Arbeit, denn das Haus bedarf ständiger Hege und Pflege. Das Stadthausleben habe zwar seine Vorzüge, man sei und bleibe aber ein „Insulaner“, so Wischnjewskaja.

Von Anastassija Buschujewa

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