Klein, alt, schön?

Jeder Reiseführer über Russland zeigt sie: traditionelle Holzhäuschen mit aufwendig geschnitzten Fensterrahmen. Seit 2010 sammelt und bewahrt Iwan Hafisow Bilder der hölzernen Schönheiten, die im ganzen Land stehen und verfallen, in seinem virtuellen Museum Nalichniki.com. Dazu reist er viel. Zum Beispiel nach Sergiew Possad.

Von Alexandra Poljakowa

Iwan Hafisow reist durch Russland, um Fensterrahmen zu fotografieren. / Alexandra Poljakowa

Iwan Hafisow reist durch Russland, um Fensterrahmen zu fotografieren. / Alexandra Poljakowa

Ein grünes Holzhaus mit weißem Fensterrahmenwerk: Fast wie eine Kuppel sitzt das obere Ornament auf den Doppelfenstern, die Seiten wirken wie von Pflanzen umwuchert. Neben dem bescheidenen Haus steht ein Mann mit Bart, sportlicher Kleidung und zwei Kameras. Zehn Minuten ist er mit dem Häuschen beschäftigt – fotografiert über und durch den hohen Zaun.
Der Profifotograf Iwan Hafisow startete vor fünf Jahren das Projekt Nalichniki.com. Nalitschniki sind die traditionell hölzernen und aufwändig geschnitzten Fensterrahmenwerke. Hafisow eröffnete ein virtuelles Museums mit Fenster- Fotos aus ganz Russland und einigen Nachbarländern. 2007 entdeckte der Fotograf aus der Moskauer Vorstadt Lobnja auf einer Reise nach Engels die Fensterrahmenwerke für sich. Derzeit zählt seine Kollektion rund zehntausend Bilder. Dafür reiste er bereits durch über 120 Städte. Eher zufällig ist er durch sein Hobby zu einem Experten gewor- den. Über die Nalitschniki spricht er inzwischen fast wie über ein lieb gewonnenes Haustier. Schnell unterscheidet er die verschiedenen Stile: die massigen Säulen kommen aus Wladimir, die Halbkreise aus Jaroslawl, die Sagengestalten aus Nischnij Nowgorod. Wenn Erstbewohner nicht das ganze Haus aus einer Region mitbrachten, so doch ihren traditionellen Schnitz-Stil.

Hingucker: Gepflegte Fensterrahmenwerke in Sergiew Possad. / Alexandra Poljakowa

Hingucker: Gepflegte Fensterrahmenwerke in Sergiew Possad. / Alexandra Poljakowa

Sie klagt weiter, das Gebäude sei schon alt und bedürfe einer Renovierung. Dafür aber fehle das nötige Geld. Das ist der Hauptgrund des traurigen Schicksal der meisten Holzbauten. Leider hätten die Häuser für viele ihrer heutigen Bewohner keinen besonderen künstlerischen Wert. Iwan meint, die hölzernen Schmuckstücke würden nicht nur von der Zeit erbarmungslos zerstört. Eine besondere Foto-Kollektion von Hafisow zeigt auch Fensterbeispiele, die einst traditionelle Nalitschniki dekorierten, heute jedoch nur noch Plastikfenster mit Bauschaum. „Die meisten hölzernen Häuser haben keinen besonderen Status, die Hausbesitzer können mit ihnen machen, was sie wollen“, sagt Iwan.Heute ist sein Reiseziel Sergiew Possad. Das grüne Haus ist das erste Zielobjekt der Tour. Iwan klingelt an der Tür. Eine ältere Dame kommt heraus und erklärt, ihr Vater habe das Haus 1946 aus einem Dorf in die Stadt umgesetzt.

Verfall: Nalitschniki nach einem Hausbrand in Krasnojarsk. / Peggy Lohse

Verfall: Nalitschniki nach einem Hausbrand in Krasnojarsk. / Peggy Lohse

Manchmal hat das Haus einen hohen architekturhistorischen Wert, ist aber in der Liste der Denkmäler nicht berücksichtigt. Im Mai 2015 gab es zum Beispiel einen großen Skandal in Ufa, wo die alte hölzerne Motorins-Villa abgerissen und erst „post mortem“ als Architekturdenkmal anerkannt wurde. „Ich denke, das Problem liegt nicht im mangelnden Engagement der Stadtregierungen, sondern im Wunsch der Menschen nach Komfort“, meint der Holzhaus- Liebhaber Hafisow, „Das Neue wird in Russland mehr geschätzt als das Alte, auch wenn das Alte großen historischen Wert hat. Da rücken die Traditionen oft in den Hintergrund.“In den Stadtzentren russischer Kleinstädte stehen viele historische Bauwerke unter Denkmalschutz. Doch die Renovierung ist aufwendig und teuer, Neubau meist kostengünstiger. Obwohl das Haus unter Denkmalschutz steht, ziehen es die Besitzer oft vor, das Gebäude verfallen zu lassen. Oftmals sieht man an den Holzfassaden Brandspuren. Wenn das Haus nicht mehr zu retten ist, kann ein neues errichtet oder das alte Gebäude ohne Rücksicht auf den Denkmalschutz renoviert werden. Letzteres geschah zum Beispiel 2013 auch in Moskau mit dem ältesten hölzernen Gebäude der Hauptstadt, dem Wsewoloschskij-Haus.

In Tomsk wird der Denkmalschutz beachtet. / Peggy Lohse

In Tomsk wird der Denkmalschutz beachtet. / Peggy Lohse

Das Nalitschniki-Projekt ist bis- her nur Hafisows Hobby, Geld für sich und seine Familie – Frau und zwei kleine Töchter – verdient Iwan durch das Fotografieren von Hochzeiten und Inneneinrichtung. Im Laufe des vergangenen Jahres sammelte er über Crowdfunding Mittel für eine Art Reiseführer über Fensterrahmenwerke in Zen- tralrussland. Im Sommer 2016 soll es erscheinen. In der Online-Community gibt es auch eine Besuchergalerie. Dort wurden schon über 5000 Fenster- Fotos von Followern der Seite hochgeladen. Iwan will mit dem Projekt nicht nur Bilder sammeln, sondern auch Menschen dafür sensibilisieren, welche Schönheiten da in ihrem Alltag verfallen. Die Bilder strotzen vor Farben und Optimismus. Manchmal aber fühle er sich hilflos. „Ab und zu, wenn ich ein Haus fotografiere, denke ich: Vielleicht wird das Auto im Bild die Leute bald mehr interessieren als das Gebäude“. Seine Stimme klingt hier ein bisschen pessimistisch.

Besonderheiten der sibirischen Nalitschniki: die „Tomsker Spitze“. / Peggy Lohse

Besonderheiten der sibirischen Nalitschniki: die „Tomsker Spitze“. / Peggy Lohse

Info

Denkmalschutz

Der „Schutz des Kulturerbes der Völker der Russischen
Föderation“ kann für Denkmäler, Architekturensembles und einzelne Sehenswürdigkeiten gelten. Hauptkriterium ist hierbei die Authentizität des
Objekts. Zustand und Nutzung werden staatlich kontrolliert, wobei die finanzielle Verantwortung für nötige Restaurationsarbeiten zumeist beim
Eigentümer verbleibt.
Tomsk in Westsibirien zum Beispiel wurde auf eine Bürgerinitiative hin 2012 zum Flächendenkmal erklärt und die Innenstadt, bestehend aus Holzgebäuden mit den als „Tomsker Spitze“ bekannten Holzschnitzereien, in unterschiedlich strenge Schutzzonen aufgeteilt.

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