Zurück in die Zukunft?

Vor 100 Jahren wurde die Sowjetunion gegründet. Und wieder spricht man über das heutige Russland als UdSSR 2.0, deren Vorbild die UdSSR zu den „glücklichen Zeiten Breschnews“ war. Der MDZ-Autor Frank Ebbecke wirft einen kurzen ganz persönlichen Blick zurück in dieses Land und diese Zeit.

Gorki-Straße Ende der 70er Jahre
Die Gorki-Straße, heute die Twerskaja, Ende der 70er Jahre. (Foto: Denisenko/RIA Novosti)

Da waren sie aber baff – die Familie, die Freunde, die Kollegen. Wir schrieben das Jahr 1978. Die Urlaubszeit stand an und auf die spannende Frage, wohin die Reise geht, fiel die Antwort wie ein Hammer und sogleich die Kinnlade so manchen Gegenübers runter: in die Sowjetunion. Sozusagen ins westlich anerzogene östliche „Feindesland“. Verrückt für viele, mein erklärter Reiseplan. Und das auch noch als Schreiberling, als festangestellter Redakteur des damals immerhin doch als links-liberal geltenden „Stern“-Magazins mit wöchentlicher Millionen-Auflage. Nun ja, die Gnade meines Visums wurde demzufolge – wie auch sonst – Monate verschleppt. Die 10-tägige Besuchserlaubnis für die Herzkammern der einstigen Sowjetunion, die Kapitalen Moskau und Leningrad, war schließlich gewährt worden, weil meine Reisegenossen – Ehefrau Christa, Bruder Wolfgang mit Ehefrau Marie-France – die sauberen touristischen Entdeckergründe hatten glaubhaft erscheinen lassen.

Und das war ja auch so. Wenn ein leidenschaftlicher Journalist ein paar Tugenden haben sollte, dann sind es unter anderem doch auch wohl die unbezähmbare Neugier und der unstillbare Drang, alles mit allen Sinnen selbst aufsaugen zu müssen. Voll amerikanisiert und wohlfeil aufgewachsen, war mir das Riesenreich und seine Leute hoch über uns auf der Kugel immer irgendwie exotischer vorgekommen als Timbuktu. Denn der „Eiserne Vorhang“ im Kalten Krieg hat uns von beiden Seiten zu sehr fremden Nachbarn werden lassen.

Und dann ging das spannende Entdeckungsabenteuer los – mit einem leichten Kopfstoss, schon beim ersten Schritt auf sowjetischen Boden beim Besteigen der Aeroflot-Tupolev 154 mit ihrem unüblich niedrigen, oben rundgebogenen Einstieg. In dem betagten Empfangsgebäude in Moskau-Scheremetjewo unter ohrenbetäubendem Düsengelärme gut angekommen, ging die stundenlange Immigrations- und Gepäckkontrolle heftig in die Standbeine. Als einziges fiel das als harmlos gedachter Lesestoff mitgebrachte „Stern“-Magazin dem peniblen Filzen aller meiner Baggage zum Opfer. Unsere Kleingruppe wurde gleich von Natalia in herzlichem, so gut wie akzentfreiem Deutsch in Empfang genommen. Aus ihren hübschen Fängen sollten wir während der nächsten zehn Tage allerdings nicht mehr entkommen können. Natalia war unsere aufmerksame „Intourist-Wachfrau“ auf Schritt und Tritt.

Der lange Transfer ins Zentrum in einem schweren Wolga im Retro-Limousinenstil der 1950er-Jahre auf großzügig angelegten Straßen kam uns schnell, wenn auch ziemlich entseelt vor – ungewohnt wenige andere Autos störten den Verkehrsfluss. Der erste Anblick unseres Hotels, gleich neben der unvergleichlichen Kreml-Postkartenkulisse, war geradezu erschlagend: ein zwar schmuckloser, trist-grauer, dafür aber hyperdimensionaler Betonklotz, ein Stolz der Nation, nämlich die größte „Edel“-Herberge der Welt mit mehr als 3000 Zimmern, entsprechend vielen Restaurants und Bars – notwendigerweise, denn ansonsten erwies sich die Auswahl an Alternativen in der Millionenstadt eher mager. Der architektonische Schandfleck „Rossija“ ist inzwischen längst dem wunderschönen Park „Zaradje“ an der Moskwa gewichen. Das Hotel war dennoch stark bevölkert, von Gästen aus der weiten Sowjetwelt, wenigen versprengten Westlern, vor allem aber unzähligen, unauffällig-auffälligen Beobachtern – an den zahllosen Eingängen, Aufzügen, selbst auf den einzelnen Etagen.

Frank Ebbecke
40 Jahre nach seiner ersten Moskau-Reise. Der MDZ-Autor Frank Ebbecke (Foto: IVDK)

Am ersten Abend gleich tatsächlich ein erster Eindruck der vorverurteilten Mangelwirtschaft: Eine international reichhaltige, vollmundig beschriebene Speiseauswahl, aber letztendlich gab es nur Hühnchen nach überlanger Wartezeit. Nun gut, Wodka war dagegen im Überfluss im Angebot, in großzügigen, für uns unüblichen Gramm-Abmessungen – ein halbes Kilo mögen es am ersten Abend schon gewesen sein. Natürlich in stilvoller Begleitung von global goutierten, stolzen Portionen heimischen schwarzen und roten Kaviars.

Beim ersten Spaziergang über den atemberaubenden „Roten Platz“ und durch das angrenzende architektonische Meisterwerk des Konsumtempels „GUM“ wurden die diesbezüglichen, vorgefassten Erwartungen gleich mehrfach bestätigt. In einem schwer einsehbaren Nischeneingang des Kaufhauses wurde ich am ersten Tag
gleich meine Levis-Jeans los – auf höfliches, aber dringlich bettelndes Betreiben eines lokalen Altersgenossen, im fixen Umzugstausch gegen seine Hose und 100 US-Dollar in bar. Drinnen knubbelten sich dann eine Menge Moskowiter um gewaltig große, grob aufgerissene Pappkartons. Nach raschem Check unserer Begleiterin Natalia waren seltene zu habende italienische Marken-Sonnenbrillen die Objekte der Begierde, von denen sich jeder, der es überhaupt schaffte, gleich mehrere grapschte – für spätere Geschäfte mit Bekannten gegen andere Mangelware. Während in vielen meterlangen Schaufenstern oft lediglich einsame Pyramiden von irgendwelchen Konserven oder Kastenbroten lockten, führte Natalia uns schnell in einen sogenannten „Berioska“-Laden, um uns zu demonstrieren, dass es eigentlich doch alles von überall für alle nach kommunistischem Plan gab.

So zum Beispiel Seidenstrümpfe, amerikanische Zigaretten oder Schokolade mit der lila Kuh. Sie vergaß leider zu erwähnen, dass hier nur Privilegierte mit besonderen Ausweisen und Devisen überhaupt Zugang hatten. Der mobile Verkehr auf den weiten, wohlgepflegten Straßenzügen im Herzen der Riesenmetropole zeigte sich meist so dürftig, dass man wagen konnte, ohne rechts und links zu gucken, auf die andere Seite zu wechseln. Privater Autobesitz war zu diesen Zeiten eine eher seltene Vorzugsbehandlung. Unser Versuch gelang – wir haben es ohne Blessuren und Hupkonzert überlebt. Dagegen waren viele Nebenstrecken so buckelig und löcherig, dass bei einem Ausflug in unserem Bus, dessen Karosserie ohnehin sichtbar nur noch durch mehrschichtige Lackschichten zusammengehalten wurde, die Innenlampen von der Decke fielen.

Aber zu all diesen persönlichen, für uns tatsächlich fremdartigen Schlaglichtern aus dem täglichen Leben gesellten sich die überwältigenden Eindrücke großer, historisch gewachsener Kultur: wie Bauwerk und Ballett des Bolshoi-Theaters, das gesamte Kreml-Areal mit seinen Kirchen und Museen, wie die nationalen Paläste der Völker in der „All-Unions-Ausstellung“ in Moskau, wie das anerkannt einmalige Stadt-Ensemble von Leningrad mit den Kunstschätzen in der Eremitage, den Prachtbauten an den pittoresken Wasserwegen, den Schlössern in der Umgebung.

Das ist jetzt 44 Jahre her und ich habe es immer noch mit Russland und seinen Russen. Seit nunmehr 27 Jahren fühle ich mich persönlich wie beruflich zuhause in diesem Land und unter diesen Leuten. Ein Riesenflecken schöner Erde mit rund 144 Millionen Menschen wie „du und ich“. Und die sind nicht alle schlechte. Ganz so wie überall und anderswo. Ich habe sie mehrheitlich als großherzig und hilfsbereit, großzügig und gastfreundlich, als zwangsläufig gewachsen leidens- und widerstandsfähig empfunden. Damals wie heute. Das Bild meiner kleinen Welt unter Russen hat gleichwohl in diesem Jahr Kratzer abbekommen. Intellektuell und seelisch durchlebe ich heute eine Zeit der schwer begreifbaren Zumutungen. Werden jetzt gerade auch so manche der mehr verstörenden Erinnerungen wieder tägliche Wirklichkeit? Hoffen wir mal für alle tragisch Betroffenen und verantwortlich Beteiligten in Ost und West, dass die Zeit die bereits geschlagenen Wunden zwar nicht ganz heilen kann, aber dass sich die Schmerzen lindern lassen – so schnell es eben geht.

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