Kurz vor ihrem 30. Geburtstag beschließt die freie Journalistin Julia Eisenbrenner, der Ursache für ihre innere Zerrissenheit auf den Grund zu gehen, die sie nachts nicht schlafen und tagsüber nicht arbeiten lässt. Eine wichtige Rolle scheint dabei ihre Großtante Margarethe zu spielen, deren unerklärliches Verhalten sie zehn Jahre zuvor heimlich beobachtet hat. Während alle anderen Verwandten einschließlich ihrer Eltern alle Fragen nach der Vergangenheit konsequent abblocken, erklärt sich Tante Margarethe zu Julias eigener Überraschung spontan dazu bereit, ihr ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Es ist zugleich die Geschichte der deutschen Minderheit in der Sowjetunion und führt den Leser aus der Ukraine nach Brandenburg, nach Kasachstan und Sibirien und schließlich in das schwäbische Dorf, in dem Julias Familie jetzt lebt. Es ist aber auch die ganz individuelle Geschichte einer zarten, nie erklärten Liebe und eines lebenslangen Schweigens, das nun durchbrochen wird, da sich zwei verwandte Seelen einander offenbaren: Margarethe und Julia, beide rebellisch und unangepasst, beide bereit zum Bruch mit den Konventionen ihrer Familie, der sie doch unauflöslich verbunden sind.
Margarethes Bericht beginnt mit einem idyllischen Bild. Sie liegt im Gras am Ufer des Flusses Ingul beim Dorf Neu-Landau in der Ukraine, hat ein Buch auf dem Bauch liegen und blickt in den Himmel. Gleich wird Christian kommen und sie zum Frühstück ins Haus holen. Christian Stille, dieser Name ist Ausgangs- und Endpunkt der Erzählung vom Schicksal der Margarethe Thiessen. Als er kurz nach ihrem 10. Geburtstag zusammen mit seinem Vater aus der großen, unerreichbar fern gelegenen Stadt Odessa nach Neu-Landau kommt, ist er schon fast 16. Die vier Töchter der Familie Thiessen himmeln ihn an, Magdalena, Rosalia, Margarethe und selbst die kratzbürstige Helga, mit der Margarethe in permanentem Streit lebt. Aber Margarethe fühlt sich Christian besonders verbunden und glaubt lange Zeit daran, dass er nur auf ihre Volljährigkeit wartet, um ihr dann einen Antrag zu machen.
Es kommt anders. Den Antrag macht er Magdalena, und als die Deutschen kommen (Besatzung oder Befreiung, darüber ist sich das Dorf durchaus uneins), wird er zur Wehrmacht eingezogen. Da sind die Mädchen aber schon Halbwaisen, da der Vater, Dorflehrer und Ortsvorsteher von Neu-Landau, bereits von den „schwarzen Männern“ des NKWD abgeholt und erschossen worden ist. Seine fünfte Tochter wird ohne Vater geboren werden. Auch Christians Vater bleibt nicht verschont: Er stirbt an den psychischen Folgen seiner erzwungenen Beteiligung an der Liquidierung des jüdischen Nachbarortes, Rosental. Christian selbst taucht sporadisch, zuletzt im Sommer 1943 noch einmal kurz auf, um seine Frau, die mittlerweile schwanger ist, und deren Familie auf die unmittelbar bevorstehende Umsiedlung ins Reich vorzubereiten. Dabei steckt er Magdalena ein „wichtiges Dokument“ zu, eine nachträgliche Beurkundung ihrer Heirat, und verspricht den Schwestern, dass er sie wiederfinden werde, solange sie nur zusammenbleiben. Dieses Versprechen ihres Traumprinzen begleitet Margarethe ihr Leben lang und lässt sie die körperlichen und seelischen Leiden der Deportation überstehen.
Doppelte Entwurzelung
In den folgenden Jahren erleben die Schwestern eine doppelte Entwurzelung: Zuerst den Transport nach Westen, „heim ins Reich“, nach dem Krieg zurück in die Sowjetunion, aber nicht in die Ukraine, sondern in die Verbannung nach Kasachstan, ins Sonderlager Nr. 10, genannt Kamyschinka. Magdalenas Tochter Lilia wird geboren, ihre Schwester Helga stirbt. Rosalia bleibt in Deutschland, die Mutter stirbt in Kasachstan. Magdalena gibt die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Christian auf und heiratet erneut. Stalin stirbt, das Sonderlager wird aufgelöst und Margarethe besucht die Abendschule in Nowosibirsk und wird Lehrerin. Sie kehrt zurück nach Kamyschinka und arbeitet dort bis zu ihrer Ausreise nach Deutschland im Jahr 1976, holt 20 Jahre später auch Magdalena samt Familie nach, sodass sie ihrer Großnichte nochmals 20 Jahre später auch dies noch mit auf den Weg geben kann: Was sind schon Versprechen wert, wenn sie nicht gehalten werden? „Ich habe auf ihn gewartet“, fügt sie hinzu, „und er hat mich gefunden.“
Eins der erstaunlichsten Stilmittel der jungen Autorin, die für ihre Sammlung von Erzählungen „Im letzten Atemzug“ bereits mit dem Förderpreis des Russlanddeutschen Kulturpreises des Landes Baden-Württemberg 2020 ausgezeichnet worden ist, ist ihre sprachliche Zurückhaltung bei der Schilderung des Elends, ja Grauens in den Waggons, in denen die Menschen zusammengepfercht und ihrer Würde beraubt werden. Sie erreicht diese Distanz durch eine doppelte Fiktionalisierung. Einerseits stammt die Erzählung von einer 90-jährigen Frau, deren hervorstechende Eigenschaften Liebe und Güte sind, die bei ihren Erinnerungen übermannt wird von Tränen der Trauer und des Bedauerns, aber nie des Zorns. Zwar berichtet sie mehrmals davon, dass sie unglaublich wütend wurde, aber das ist immer ein stiller Zorn, den sie fast humorvoll erwähnt, aber nicht mehr empfindet. Ihre Standarderklärung ist, dass die Zeiten schlimm waren, der Krieg unberechenbar.
Andererseits dient die Rahmenerzählung dazu, dem Bericht der Großtante eine schriftliche Form zu geben. Julia tippt nachts ihre Audiodateien ab, und diese offensichtlich sprachlich geglätteten und überarbeiteten Transkripte sind so in die Erzählung von Julias Besuchen einmontiert, dass sie die Illusion einer zusammenhängenden Rede ergeben. Hierbei achtet die Autorin darauf, dass im Verlauf des Romans alle wesentlichen Informationen abgearbeitet werden, obwohl sie nicht immer an der chronologisch erwartbaren Stelle Erwähnung finden, sondern vielfach in einer späteren Episode, zu der sie thematisch passen.
Hierdurch erklärt sich vielleicht die überraschende Emotionslosigkeit angesichts der Grausamkeiten, die um Margarethe herum geschehen. Von früher Kindheit an wird sie zum Schweigen verpflichtet, zuerst über die Ermordung des Vaters (die immer nur als „Verschwinden“ oder „Tod“ bezeichnet wird), zuletzt über den verschollenen Christian Stille. Das Schweigegebot wird weitergereicht an Magdalenas Sohn aus zweiter Ehe, Waldemar, und so an Julia, dessen Tochter. Waldemars Halbschwester Lilia stirbt gar, ohne je erfahren zu haben, dass Konrad Eisenbrenner, Magdalenas zweiter Mann, nicht ihr leiblicher Vater war.
Vererbte Traumata
Dieses Schweigen ist es, das Julia nicht mehr zu teilen bereit ist. Sie gehört zu der Generation von Zuwanderern, die bereits in Deutschland aufgewachsen ist, wenn sie auch schon sieben Jahre alt war, als sie mit ihren Eltern und ihrer Oma Magdalena aus Kasachstan aussiedelte. Ihre Bindungen an die alte Heimat sind gering, für die sowjetischen Vorlieben und Verhaltensweisen ihrer Eltern kann sie sich nur schämen, und doch fühlt sie manchmal eine Sehnsucht nach Kasachstan und eine innere Trauer und Zerrissenheit, die nichts mit ihrer eigenen Welt zu tun zu haben scheint. Besonders tragisch ist es, dass ihre Eltern ihr nicht helfen können, weil sie selbst noch im Schweigen gefangen sind. In Deutschland neu anfangen bedeutete zu beweisen, dass man Deutscher und nicht Russe war. Sie wundern sich darüber, dass die Tochter mit 30 Jahren plötzlich Interesse an der Familiengeschichte zeigt, aber sie haben natürlich selbst alles getan, um diese Geschichte aus ihrem und Julias Leben auszublenden. So können sie sie nur an ihre Großtante verweisen, die zum Glück, im Gegensatz zur Oma, noch lebt. Genau mit diesen Worten wendet sich Julia auch an sie: „Wenn soll ich denn sonst fragen, wenn nicht dich?“ Es ist doch sonst niemand mehr da.
So kann man diesen Roman lesen als Illustration des transgenerationalen Traumas, von dem die Autorin auch in ihrer Danksagung am Ende des Buches spricht. Die Deportation ist 80 Jahre her, die meisten Zeitzeugen sind längst tot. Wir müssen, schreibt sie, so viele Lebensläufe wie möglich vor dem Vergessen retten. Der Lebenslauf von Margarethe Thiessen ist allerdings mehr geworden: stellvertretend und individuell, dramatisch und romantisch, ein Stück Literatur, ein Denkmal für die Verstorbenen, eine Ermutigung für die Lebenden.
Andreas Steppan