Von Verrätern zu Opfern und zurück

Russlands Generalstaatsanwaltschaft will nun offiziell die Rehabilitierung von Opfern politischer Verfolgung zu Sowjetzeiten rückgängig machen, wenn es sich bei den Betroffenen um „Handlanger der Nazis und Vaterlandsverräter“ gehandelt hat. Wer ist damit gemeint?

Die Gedenkstätte für die Opfer politischer Verfolgung in Moskau
2017 wurde in Moskau die Gedenkstätte für die Opfer politischer Verfolgung eröffnet, laut Neufassung der Erinnerungskonzeption besteht kein Bedarf an neuen Denkmälern zum Thema Staatsterror. (Foto: AGN Moskwa)

Fall Iwan Nowikow

Iwan Nowikow wurde 1902 in dem kleinen Dorf Satino im Kreis Borowsk (Gouvernement Kaluga) als Sohn einer Arbeiterfamilie geboren. Mitte Oktober 1941 drangen die Nazis in sein Heimatdorf ein. Iwan, der zu dieser Zeit als Hilfsmechaniker im Kraftwerk arbeitete, wurde zum Dorfvorsteher ernannt. Dies war eine gängige Praxis während der Besatzung. Man wählte die Vorsteher auf einer Dorfversammlung aus den Reihen der sachkundigen Männer gewählt. Die Dorfbewohner bestimmten, wer vor den Besatzungsbehörden ihre Interessen am besten vertreten konnte. Zu den Aufgaben des Dorfvorstehers gehörte es, die Dorfbewohner zur Arbeit zu verpflichten und die Befehle der Besatzungsbehörden auszuführen, die Sympathisanten der Partisanen herauszufinden, auf Wunsch der Besatzer Lebensmittel und Hab und Gut zu beschlagnahmen und vieles mehr.

Die Besetzung des Kreises Borowsk dauerte bis zum 4. Januar 1942. Am 26. März desselben Jahres wurde Iwan Nowikow verhaftet. Die sowjetischen Behörden warfen ihm vor, während der Besetzung des Dorfes Satino durch die deutschen Invasoren „die deutsche Führung im Kampf gegen das sowjetische Volk unterstützt, sich als Vorsteher zur Verfügung gestellt und die Bewohner des Dorfes Satino gezwungen zu haben, die Straßen für den Vormarsch der deutschen Truppen zu räumen“. Verurteilung: 5 Jahre Verbannung in die Region Krasnojarsk. Auch die Aussage eines Dorfbewohners, dass Nowikow während der Besatzung einen sowjetischen Piloten, dessen Flugzeug in der Nähe des Dorfes abgeschossen worden war, versteckte und pflegte, half nicht viel weiter. Obwohl ihn das vor der Erschießung bewahrte.

Nach dem Exil beging Iwan Nowikow Selbstmord. Er erfuhr, dass seine Frau nicht auf ihn gewartet und einen anderen geheiratet hatte. Im Jahr 2003 erkannte die Staatsanwaltschaft der Region Kaluga an, dass Nowikow zu Recht verurteilt wurde und nicht rehabilitiert werden kann.

Das Haus, in dem Iwan Nowikow lebte, 2014 (Foto: Wladimir Owtschinnikow)

Fall Pjotr Iwanow

Pjotr Iwanow, geboren 1896, lebte in der Siedlung Jermolino, Kreis Borowsk. Er wurde am 9. Januar 1942 verhaftet. Ihm wurde vorgeworfen, während der Besatzung zum Vorsteher der Siedlung ernannt worden zu sein und alle Anweisungen des deutschen Kommandos befolgt zu haben. Das Urteil: Hinrichtung. Gemäß des Urteils der Staatsanwaltschaft der Region Kaluga vom 29. August 2002 wurde Pjotr Iwanow rehabilitiert.

Erste Überarbeitung

1991 erließ Russland das Gesetz „Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Verfolgung“. Bis 2014 wurden 3 510 818 Menschen rehabilitiert. Und weitere 264 085 Menschen (Kinder der Verurteilten) als Opfer anerkannt und rehabilitiert. Diese Zahlen sind in der Konzeption zur Erinnerung an die Opfer politischer Verfolgung angegeben. Sie wurde 2015 verabschiedet.

Im Kreis Borowsk, in dem Nowikow und Iwanow lebten, gab es etwa 10 000 Opfer von Repressionen. Dabei handelt es sich nicht nur um diejenigen, die direkt beschuldigt wurden, sondern auch um ihre Familienangehörigen. Das heißt, jeder vierte Bewohner des Kreises war Repressionen ausgesetzt. Etwa 60 Prozent der verfolgten Bewohner wurden rehabilitiert. Ein großer Teil von ihnen dank der Bemühungen des Street-Art-Künstlers und Aktivisten Wladimir Owtschinnikow. So gelang es ihm beispielsweise, die Namen von 1159  „Entrechteten“ – Menschen, denen das Wahlrecht entzogen wurde wiederherzustellen. Nach seinen Einschätzungen sind nur etwa 20 Prozent der während der Sowjetzeit verfolgten Personen in Russland rehabilitiert worden.

Das Gesetz über die „Handlanger der Nazis“

Schwierigkeiten ergaben sich bei der Rehabilitierung von „Handlangern der Nazis“, darunter derjenigen, die in den Monaten der Besatzung Vorsteher gewesen waren. Insgesamt gab es 245 von ihnen im Kreis Borowsk. In den Jahren 1998–2003 überprüfte die Staatsanwaltschaft der Region Kaluga ihre Straftaten. Die Anklagen gegen 152 Personen wurden mangels Beweisen fallen gelassen. Von ihnen waren 35 Personen zur Hinrichtung durch ein Erschießungskommando verurteilt worden. Diese 152 Personen sind auf der Grundlage von Artikel 4 des Gesetzes „Über die Rehabilitierung“ rehabilitiert worden. Die Rehabilitierung von 93 Einwohnern des Kreises Borowsk wurde jedoch von der Staatsanwaltschaft verweigert.

Wladimir Owtschinnikow verglich die Verurteilungen der Rehabilitierten, mit denen derjenigen, die nicht rehabilitiert wurden. „Die Anklagepunkte sind die gleichen“, sagt der 86-jährige Künstler. „Warum dann jemandem die Rehabilitierung verweigert wurde, welche Straftat er genau begangen hat – das ist nicht klar. Es wird nicht erklärt.“

Owtschinnikow beantragte eine Überprüfung der Fälle. Nur einmal durfte er den Anhörungen beiwohnen. Die anderen Male wurden die Anhörungen ohne ihn abgehalten. „Was soll die Geheimhaltung von 80 Jahre alten Fällen?“, fragt sich Owtschinnikow. Sogar der Oberste Gerichtshof hat sich einmal mit der Frage befasst, die Fälle von fünf Einwohnern von Borowsk zu revidieren. Das Ergebnis war immer dasselbe: „Die Ablehnung der Rehabilitierung wurde als richtig angesehen“.

Zweite Überarbeitung

Im September 2024 veröffentlichte die Generalstaatsanwaltschaft den Entwurf einer Anordnung zur Überprüfung eines Teils der Entscheidungen über die Rehabilitierung von Opfern politischer Verfolgung. Demnach soll die Arbeit an der Rehabilitierung der Opfer fortgesetzt werden. In dem Text heißt es jedoch, dass eine „Rechtfertigung von Handlangern der Nazis und Vaterlandsverräter“ nicht zulässig sein sollte.

Daraufhin berichtete die Zeitung „Kommersant“, dass die Staatsanwaltschaft in den vergangenen zwei Jahren 14 000 Fälle überprüft habe. Und sie hat die Rehabilitierungen von mehr als 4000 Personen annuliert. Alle diese Personen waren zuvor als Opfer politischer Verfolgung anerkannt. Dabei handelt es sich insbesondere um Personen, die nach dem Paragrafen „Beihilfe zum Nationalsozialismus und Vaterlandsverrat“ angeklagt wurden.

Darüber hinaus hat die Behörde bei den Gerichten Anträge auf Ablehnung der Rehabilitierung von 64 Personen gestellt. Bereits 58 von ihnen wurde stattgegeben. Die Einsprüche bei den Gerichten hängen damit zusammen, dass die Aufsichtsbehörde eine Entscheidung über die Rehabilitierung, die von der Staatsanwaltschaft auf der Grundlage eines Antrags des Verurteilten oder seiner Angehörigen getroffen wurde, nicht von sich aus aufheben kann, erklärt „Kommersant“. 

Stefan Grischin aus dem Dorf Bolschyje Kosly (heute Kreis Peremyschl, Region Kaluga) war einen Monat lang während der Besatzung Obervorsteher. Das heißt, er koordinierte die Vorsteher von 15 Dörfern. Ende 1941 wurde Stefan verhaftet, verurteilt und erschossen. 2003 wurde er rehabilitiert. Im Jahr 2018 stellte sein Enkel eine Anfrage zum Fall Stefan Grischin. Die Staatsanwaltschaft antwortete, dass Grischins Unterlagen gefunden worden seien und geprüft werden. Im Januar 2019 kam die Antwort: „Grischin S.F. darf nicht rehabilitiert werden.“ Die Überprüfungsverfahren zur Rückgängigmachung laufen in der Tat schon seit längerer Zeit.

Olga Silantjewa


Die Konzeption zur Erinnerung an die Opfer politischer Verfolgung: Alt- und Neufassung

Die Konzeption der staatlichen Politik zur Erinnerung an die Opfer politischer Verfolgung wurde 2015 verabschiedet. „Russland kann sich nicht vollständig zu einem Rechtsstaat entwickeln und eine führende Rolle in der Weltgemeinschaft einnehmen, ohne der vielen Millionen seiner Bürger zu gedenken, die Opfer politischer Verfolgung wurden“, heißt es in der Konzeption. Sie legt die Hauptkriterien, Formen und Methoden der Aktivitäten bis 2019 fest, um die Erinnerung an die Opfer der politischen Verfolgung aufrechtzuerhalten. Danach wurde sie bis 2023 und vor Kurzem erneut bis 2029 verlängert.

Aber jetzt erfuhr sie wesentliche Änderungen. Zunächst einmal wurde die Einleitung komplett umgeschrieben. Zum Beispiel ist der hier zitierte Satz verschwunden. Viele Formulierungen wurden unkonkret. Es heißt nicht mehr, dass „Versuche, die politische Verfolgung mit den Besonderheiten der Zeit zu rechtfertigen oder sie als Tatsache unserer Geschichte zu leugnen“ unzulässig sind.

In der neuen Fassung gibt es einige Ergänzungen. Eine davon betrifft die „Handlanger der Nazis“. In der neuen Fassung heißt es, dass der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 17. September 1955 „Über die Amnestie für Sowjetbürger, die während des Großen Vaterländischen Krieges 1941-1945 mit den Besatzern kollaboriert haben“ eine allgemeine Amnestie erklärte, die „in der Folge unter anderem zur Rehabilitierung von Handlangern von Nazis und Vaterlandsverrätern, die in baltischen, ukrainischen und anderen aus ethnischen Gründen gebildeten Strafeinheiten gedient hatten, sowie von Teilnehmern an nationalistischen Untergrund- und Banditenformationen führte“. Hier liegt ein formaler Fehler vor: Der Sowjetstaat vergab 1955 denjenigen, die aus Feigheit oder Unwissenheit mit den Besatzungsbehörden kooperierten. Nur den Bestrafern wurde nicht verziehen. Und es war der russische Staat, der sie rehabilitierte: Er erkannte an, dass das Urteil ungerecht war.

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