Samantha und Mr. Andropov: „Warum wollen Sie die Welt erobern?“

Fast auf den Tag genau vor 35 Jahren bekam die zehnjährige Samantha Smith aus den USA Post von keinem Geringeren als dem mächtigsten Mann der Sowjetunion: Generalsekretär Jurij Andropow. Er antwortete im Frühjahr 1983 auf einen Brief, den das Mädchen ein halbes Jahr vorher an ihn adressiert hatte. Daraus entwickelte sich eine Verbindung, die Menschen in aller Welt gerührt, erstaunt, manchmal auch kopfschüttelnd zurückließ, hatten sich die beiden Supermächte doch sonst nicht viel zu sagen und steuerten wieder einmal auf eine militärische Konfrontation zu.

Welcome! Samantha Smith (Bildmitte) im Sommer 1983 inmitten sowjetischer Pioniere im Lager Artek. © Juri Abramotschkin / RIA Novosti / Wikimedia Commons

Der Brief von  Samantha Smith an Jurij Andropow

© Russisches Staatsarchiv für Zeitgeschichte

Dear Mr. Andropov, mein Name ist Samantha Smith. Ich bin 10 Jahre alt. Glückwunsch zu ihrem neuen Job. (Andropow wurde im November 1982 Nachfolger von Breschnew – d. Red.) Ich mache mir Sorgen, dass Russland und die Vereinigten Staaten in einen Atomkrieg geraten könnten. Werden Sie für den Krieg stimmen oder nicht? Wenn nicht, dann würde ich gern wissen, was Sie tun wollen, damit es keinen Krieg gibt. Diese Frage müssen Sie nicht beantworten, aber ich hätte es gern: Warum wollen Sie die Welt erobern oder zumindest unser Land? Gott hat die Welt erschaffen, damit wir sie gemeinsam bewohnen und uns kümmern. Nicht, um zu kämpfen oder damit eine Gruppe von Menschen die Macht an sich reißt. Lassen Sie uns seinen Willen erfüllen, so dass alle glücklich sind.

P.S. Bitte schreiben Sie zurück.

Der Brief von Jurij Andropow an Samantha Smith

Dear Samantha, deinen Brief habe ich bekommen, so wie viele andere, die mich aus deinem Land und anderen Ländern erreichen. Nach deinem Brief zu urteilen, bist du ein mutiges und aufrichtiges Mädchen, so wie Becky, die Freundin von Tom Sawyer aus dem berühmten Buch deines Landsmanns Mark Twain. Dieses Buch wird in unserem Land von allen Jungen und Mädchen sehr geliebt.

Du schreibst, dass dich sehr beunruhigt, ob es zwischen unseren beiden Ländern zu einem Atomkrieg kommen könnte, und fragst, ob wir denn irgendetwas tun, damit das nicht passiert. Deine Frage ist die wichtigste von allen, die ein denkender Mensch stellen kann. Du sollst darauf eine ernsthafte und ehrliche Antwort bekommen.

Ja, Samantha, wir in der Sowjet­union versuchen, alles dafür zu tun, dass es keinen Krieg zwischen unseren Ländern und überhaupt auf der Welt gibt. Das möchte jeder Sowjetmensch. Das hat uns der große Lenin gelehrt, der Gründer unseres Staates.

Die Menschen in der Sowjet­union wissen nur zu gut, wie schrecklich und zerstörerisch Kriege sind. Vor 42 Jahren hat Nazideutschland, das die Weltherrschaft an sich reißen wollte, unser Land angegriffen, Tausende unserer Städte und Dörfer niedergebrannt und verwüstet, Millionen sowjetischer Männer, Frauen und Kinder getötet.

Jurij Andropow © Zeitschrift „Soviet Life“ / Wikimedia Commons

In jenem Krieg, der mit unserem Sieg endete, waren wir mit den Vereinigten Staaten verbündet, haben gemeinsam für die Befreiung vieler Völker von den nazistischen Eroberern gekämpft. Ich hoffe, dass du das aus dem Geschichtsunterricht weißt. Auch heute wollen wir in Frieden leben, Handel betreiben und mit all unseren Nachbarn auf dem Erdball zusammenarbeiten – ob von nah oder fern. Natürlich auch mit einer so großen Nation wie den Vereinigten Staaten von Amerika.

Sowohl Amerika als auch wir verfügen über Atomwaffen – furchtbare Waffen, die in einem Augenblick Millionen Menschenleben auslöschen können. Doch wir wollen nicht, dass sie jemals angewendet werden. Aus diesem Grunde hat die Sowjetunion vor der Weltöffentlichkeit erklärt, dass sie niemals – niemals! – Atomwaffen als Erste gegen ein anderes Land einsetzen wird. Und wir haben vorgeschlagen, ihre weitere Produktion überhaupt einzustellen und mit der Vernichtung der auf der Welt existierenden Bestände zu beginnen.

Wir wollen Frieden. Zu tun gibt es für uns genug: Brot herzustellen, zu bauen und zu erfinden, Bücher zu schreiben und in den Kosmos zu fliegen. Wir wollen Frieden für uns und für alle Völker auf dem Planeten. Für unsere Kinder und für dich, Samantha.

Ich lade dich ein, uns zu besuchen, sofern deine Eltern nichts dagegen haben. Am besten im Sommer. Dann lernst du unser Land kennen, triffst Gleichaltrige, fährst ins internationale Kinderlager Artek am Meer. Und du kannst dich selbst davon überzeugen: In der Sowjetunion sind alle für Frieden und Völkerfreundschaft.

Samantha Smith in der Sowjetunion

Im Juli 1983 verbrachte Samantha mit ihren Eltern Arthur und Jane Smith zwei Wochen in der Sowjetunion, auf Schritt und Tritt begleitet von in- und ausländischen Medien. Bereits im Vorfeld war die inzwischen Elfjährige zu Hause in populären Late-Night-Shows interviewt worden. Es fehlte auch nicht an kritischen Stimmen. Den Sowjets die Hand auszustrecken, sei zwar gut gemeint, werde aber unweigerlich von der sowjetischen Propaganda ausgenutzt.

Während ihrer Reise hielt sich Samantha neben Moskau und Leningrad vor allem im Pionierlager Artek auf der Krim auf, was für sie auch der schönste und aufschlussreichste Part ihrer Expedition hinter den Eisernen Vorhang war. Auf einer abschließenden Pressekonferenz in Moskau sagte sie, die Russen seien „wie wir“.

Der Tod der beiden Beteiligten

Ein geplantes Treffen mit Jurij Andropow kam nicht zustande. Der Parteichef ließ sich wegen Terminen entschuldigen, war aber vielleicht auch schon zu krank. Der im Gegensatz zu seinem Vorgänger Breschnew und seinem Nachfolger Tschernenko durchaus reformfreudige Ex-KGB-Chef starb im Jahr darauf mit 69 Jahren an Nierenversagen. Und noch ein Jahr später fand auch das Leben von Samantha Smith ein tragisches Ende.

Nach der Rückkehr der Smiths in die USA war das Medienecho weiter groß. Samantha trat im Fernsehen auf, erhielt eine Rolle in einer TV-Serie. Beim Heimflug von Dreharbeiten verunglückte am 25. August 1985 die Propellermaschine, in der sie und ihr Vater saßen. Alle sechs Passagiere und die beiden Piloten starben.

In Manchester, ihrem kleinen Heimatort in Maine an der Ostküste der USA, hält man das Andenken an Samantha Smith und ihre Friedensbotschaft bis heute hoch.

1986 tourte die elfjährige sowjetische Schülerin Katja Lytschjowa bei einem Gegenbesuch  durch die USA. Dabei traf sie auch mit Präsident Ronald Reagan zusammen.

Tino Künzel

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