Viele Nachrichten von den Olympischen Spielen in Tokio haben uns dieses Jahr überrascht. Eine davon klang so: „13-jährige Japanerin Momiji Nishiya holt Olympia-Gold im Skateboard“. Während wir uns daran gewöhnt haben, dass der Profisport jedes Jahr jünger wird, war es für viele neu, dass die olympischen Medaillen jetzt auch im Skateboarding verteilt werden.
Schließlich wurde Skateboarding lange Zeit eher als eine Art Subkultur denn als Sport wahrgenommen. Kalifornien gilt als Geburtsort der Skateboard-Kultur. Es wird angenommen, dass es in den 30er bis 40er Jahren des letzten Jahrhunderts von Surfern erfunden wurde, denen langweilig war, denn es keine Wellen auf dem Ozean gab. Im Jahre 2016 hat das Internationale Olympische Komitee Skateboarding – wie auch das Surfen – in das Programm der Olympischen Sommerspiele in Tokio 2020 aufgenommen. Natürlich nahmen Skater schon früher an Wettbewerben teil, bei denen sie Punkte erhielten, aber für viele Skater war das bei weitem nicht das Wichtigste. Die meisten begeisterten Skateboarder versuchten einfach, ihr Potenzial zu entwickeln, neue Tricks zu zeigen.
„Dieser Opa aus St. Petersburg“
Früher wurden die meisten Wettbewerbe nicht von Sportverbänden oder Vereinen organisiert, sondern von verschiedenen TV-Sendern sowie von Skateboard- und Bekleidungsherstellern. Viele Jungen und Mädchen träumten davon, auf ein Brett zu steigen, um wie „diese coolen Typen“ im Hof oder Skatepark zu skaten.
Vielleicht ist nach diesem Sommer alles anders und die Kinder fangen an zu Skaten, um Olympiasieger zu werden. Oder vielleicht, um im Alter wie „dieser Opa aus Sankt-Petersburg“ zu sein. Im August verbreitete sich in allen russischen sozialen Netzwerken ein Video mit einem 73-jährigen Skateboarder, der souverän und elegant auf seinem Retro-Board durch die Straßen der nördlichen Hauptstadt fährt. Nach diesem Video fragte ich mich sofort, wie sich das Skateboarding in der Sowjetunion entwickelt hat – wenn überhaupt.
Das erste sowjetische Skateboard kam aus Estland
Der Beweis, dass es Skateboarding in der Sowjetunion gab, ist das Cover der damals beliebten Zeitschrift „Körperkultur und Sport“ von 1988. Es zeigt den berühmten sowjetischen Athleten Valerij Nowikow auf seinem Skateboard. Aber der erste Kurzartikel über ein neues Hobby unter Jugendlichen erschien viel früher, im Januar 1977 in der Zeitschrift „Wissenschaft und Leben“. Der Text der Notiz lautete: „In den USA ist eine neue Sportart in Mode gekommen – das Fahren auf speziellen Brettern mit vier Rädern, die an Kinderroller erinnern. Bei dem letzten Wettbewerb in Long Beach (Kalifornien) erreichten Rennfahrer, die auf einer Betonspur von einem hohen Hügel rollten, eine Geschwindigkeit von 115 Kilometern pro Stunde“.
Und so begann es. In verschiedenen Jugendmagazinen erschienen Artikel und sogar Zeichnungen, wie man selbst ein Skateboard bauen kann. Das erste „industrielle“ sowjetische Skateboard wurde 1978 in der Estnischen SSR produziert. Natürlich hätte das Skateboard nur ein „Spaß für Kinder“ bleiben können, aber dank der Olympischen Spiele 1980 in Moskau begannen große Industrieunternehmen, Boards herzustellen.
Skateboarding wurde nicht nur für Jugendliche, sondern auch für Athleten wie Skifahrer, Turner und Schwimmer interessant. Und diese begannen, die „Kultur des Skateboarding“ in der UdSSR zu prägen.
Saratow war die Hauptstadt der Skater
Die ersten Wettkämpfe organisierten die Skater selbst, es gab keine spezifischen Regeln. Aufgaben konnten sein: entlang der Promenade hin und her zu fahren, ein paar Sprünge über die Latte oder andere Tricks aufzuführen. Mitte der 80er Jahre erhielt Skateboarding den Status einer Sportart in der Sowjetunion. Die Stadt Saratow wurde zur Hauptstadt des sowjetischen Skateboardens, dort wurde der Club „Fantastica“ gegründet.
Der begann Wettbewerbe zu veranstalten, die Hunderte von Skatern, darunter auch Ausländer, anzogen. Der Club hat auch eine eigene Zeitschrift herausgegeben, „Skate News“. Dort wurden alle Informationen über das Skateboarden in der Sowjetunion gesammelt: Wo findet der nächste Wettbewerb statt? Wer stellt neue Skateboards her? Es gelang ihnen auch, mit den ausländischen Kulturmagazinen wie „Thrasher“, „TWS“, „RAD“ in Kontakt zu treten. Die Redaktion von „Skate News“ hat auch zahlreiche Artikel übersetzt, über großartige Skater, Wettbewerbe und wie man diesen oder jenen Trick macht. Übrigens korrespondierten einige sowjetische Skater aktiv mit den Redakteuren des „Thrasher“-Magazins.
Treffen mit US-Kollegen
Und 1989 fand ein epochales Ereignis statt – ein Team von Skatern aus San-Francisco ging auf Tour durch die UdSSR, um sich mit ihren sowjetischen Kollegen zu treffen und zu skaten. Für „unsere“ war es ein gravierender Akzentwechsel: vom traditionellen Slalom, bei dem die sowjetischen Jungs gut waren, zum Streetskating, das von den Amerikanern „mitgebracht“ wurde.
Später wurde im „Thrasher“-Magazin umfangreiches Material über das sowjetische Skateboarding veröffentlicht. Das Cover dieser Zeit zeigte einen sowjetischen Skater vor einem Lenin-Porträt mit dem Titel „Skaters of the World Unite“. Jungs aus den USA zeigten den Einheimischen nicht nur ihre Tricks, sondern schenkten ihnen auch echte amerikanischen Bretter, von denen man damals nur träumen konnte. Für die sowjetischen Skater begann bald ein neues Kapitel in der Geschichte: der Zusammenbruch der Union und die schwierigen 90er Jahre.
Die Geschichte des sowjetischen Skateboardens ist von einem besonderen Geist der Freiheit und des Aufbruchs erfüllt. In dieser Geschichte kann man übrigens im „UdSSR Skate Museum“ in Minsk eintauchen. Im Jahr 2018 wurde es von dem Skateboarder, Enthusiasten und gleichzeitigen Leiter des belarussischen Skateboardverbandes, Gleb Benziowskij, eröffnet.
Maria Bolschakowa