Sie reden vom Sieg. Aber was heißt das überhaupt?

Der Sieg im Zweiten Weltkrieg hat die Russen immer geeint. Nun wird auch ein Sieg in der Ukraine beschworen. Wie der konkret aussehen könnte, ist unklar.

Z-Botschaft auf einer Mauer im Süden Russlands (Foto: Tino Künzel)

Pobeda ist nicht nur eine russische Fluggesellschaft, die in der Vergangenheit auch Ziele in Deutschland angeflogen hat. Dass sie so heißt, liegt an der Bedeutung dieses Worts. Pobeda ist der Sieg. Und unter allen Siegen vor allem dieser eine von 1945, der am 9. Mai als „Siegestag“ gefeiert wird. Deshalb hat das Wort für die Russen einen ganz besonderen Klang. In Zeiten der „Sonderoperation“ benutzen sie es wie eine Beschwörungsformel.

„Bringt den Sieg mit!“

Da schreibt ein Lokalfotograf, der einberufene Reservisten bei der Verabschiedung an die Front fotografiert hat, in seinem Post auf Vkontakte: „Wir erwarten euch zurück, wir beten für euch. Bringt den Sieg mit!“

Diese Männer aus Nordrussland wurden im Zuge der Teilmobilmachung an die Front verabschiedet. Der Fotograf verbindet damit die Hoffnung auf einen „Sieg“, wie er im Sozialnetzwerk Vkontakte schreibt.

Da steht der Schauspieler Iwan Ochlobystin auf dem Roten Platz und ruft in die Menge vor der Bühne: „Früher oder später passiert das, was alle erwarten – wir siegen.“ Dann schlägt er die Umbenennung der „Sonder­operation“ in „Heiliger Krieg“ vor und brüllt „Fürchte dich, alte Welt, wir kommen“.

Da sagt Sergej Kirijenko, einer der ranghöchsten Mitarbeiter von Präsident Wladimir Putin, auf einem Forum für Klassenlehrer: „Russland hat jeden Krieg gewonnen, wenn er zu einem Krieg des Volkes geworden ist. So war das immer. Wir werden auch diesmal unbedingt siegen.“

Die Beispielzitate sind verkürzt wiedergegeben, ohne aber etwas Wichtiges zu unterschlagen. Sie liefern tatsächlich nicht den kleinsten Hinweis darauf, was das denn für ein Sieg sein soll, von dem alle ständig reden. Welcher Ausgang der „Sonderoperation“ wäre damit gemeint, wenn man das große Wort in die militärischen Realitäten übersetzt? Reicht die Vorstellungskraft, sich das auszumalen?

Rhetorik knüpft an Vertrautes an

Die so oft und gern zitierten Dedy, die Großväter, wussten genau, wie der Zweite Weltkrieg zu enden hatte. Sie drängten die Deutschen dorthin zurück, wo alles begonnen hatte, und brachten sie in eine ausweglose Lage. Die siegreich heimkehrende Armee, die unter unbeschreiblichen Opfern erst das eigene Land und auf dem Weg nach Berlin halb Europa vom Faschismus befreit hatte – nichts könnte zentraler für das Selbstverständnis der Russen sein.

Die Terminologie der „Sonder­operation“ knüpft an diese Motive an. Russland, so heißt es, kämpft für seine selbstbestimmte Zukunft, gegen Nazis, befreit die Opfer seiner Feinde, beschützt ethnische Russen im Donbass. Als das russische Militär am 24. Februar die Grenze zur Ukraine überschritt, war deren „Entnazifizierung“ als Ziel ausgegeben worden. Offen blieb, was das eigentlich bedeuten sollte und wann dieses Ziel als erreicht gelten könnte.

Geht nur Endweder-Oder?

Bis zum Sieg kämpfen will im Übrigen auch eine große Mehrheit der Ukrainer. Und es scheint weitgehende Einigkeit darüber zu herrschen, was darunter zu verstehen ist (siehe unten). Doch gleichzeitig sind die Zweifel bei vielen unmittelbar und mittelbar Beteiligten groß, ob eine künftige Friedenslösung – oder zumindest erst einmal eine Einstellung der Kämpfe – überhaupt als Sieg der einen über die andere Seite gedacht werden kann. Denn eine Niederlage hinnehmen zu können, scheint für beide Seiten völlig ausgeschlossen zu sein, was den Gedanken an die Folgen umso beängstigender macht. So glaubt beispielsweise der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr und General a.D. Harald Kujat nicht, dass es der Ukraine gelingen wird, eine Entscheidung mit militärischen Mitteln herbeizuführen. „Eine Nuklearmacht kann man nicht besiegen“, sagte er zuletzt im Interview mit dem deutschen Nachrichtensender n-tv.

Doch was ist die Alternative zum Endweder-Oder? Eine Verhandlungsbasis zu formulieren, die zumindest eine Minimalchance hätte, nicht sofort zurückgewiesen zu werden, fällt momentan fast noch schwerer.

Tino Künzel

Siegen statt verhandeln

Die Ukraine solle gegen Russland „bis zum Sieg“ weiterkämpfen, findet eine große Mehrheit der Ukrainer. Das geht aus einer Mitte Oktober veröffentlichten Umfrage des US-Meinungsforschungsinstituts Gallup in den von der Ukraine kontrollierten Gebieten hervor. Die Interviews dafür wurden Anfang September geführt.

70 Prozent sprachen sich demnach für eine Fortsetzung der Kampfhandlungen aus, bis ein Sieg errungen sei. Nur gut ein Viertel der Befragten plädierte für die Aufnahme von Verhandlungen.

Die Befürworter einer militärischen Lösung wurden auch gefragt, wie sie eigentlich „Sieg“ definieren. 91 Prozent nannten die Rückeroberung sämtlicher Gebiete, die sich Russland seit 2014 angegliedert hat, einschließlich der Krim.

Am größten ist die Unterstützung für die Suche nach einer Entscheidung auf dem Schlachtfeld in den Regionen, die weit von der Front entfernt sind, so etwa in Kiew (83%) und der Westukraine (82%). Im Osten und Süden fällt sie mit 56 beziehungsweise 58 Prozent erheblich geringer aus.

„Deshalb wird der Sieg unser sein“

Ex-Präsident Dmitri Medwedew hat den Russen mit einem giftigen Post zum Tag der Einheit des Volkes am 4. November gratuliert. Auf Telegram rechnete er mit allen möglichen Feinden Russlands ab und hatte auch für Hunderttausende Russen, die in den letzten Wochen und Monaten ins Ausland emigriert sind, nur Schimpf und Schande übrig. „Feige Verräter und merkantile Überläufer“ seien sie, deren „Knochen ruhig in der Fremde verfaulen“ sollten, rief Medwedew ihnen nach. „Ohne sie sind wir stärker und reiner.“

Der 57-Jährige, heute stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates, macht seit einiger Zeit mit besonders scharfen Tönen in Richtung Ukraine und Westen von sich reden. Seine Gratulation unter der Überschrift „Warum wir im Recht sind“ spickte er nun mit religiösen Bezügen. Russland, das eine „sakrale Kraft“ erlangt habe, könne seine Feinde ins Fegefeuer befördern, gehorche aber der „Stimme des Schöpfers in unseren Herzen“. Und so sei es das „heilige Ziel“, den „Herrscher der Hölle“ zu stoppen, auf die Waffe der Wahrheit gegen die Waffe der Lüge zu setzen und auf das Leben gegen die Verdammnis. „Deshalb“, so Medwedew, „ist unsere Sache richtig, deshalb wird der Sieg unser sein.“

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: