Shurnuch: Ein Dorf in zwei Ländern

Die Nachbarländer Armenien und Aserbaidschan streiten seit Jahrzehnten um Bergkarabach. Was zu Sowjetzeiten eine autonome Provinz auf aserbaidschanischem Gebiet war, brachten Anfang der 1990er Jahre armenische Streitkräfte unter ihre Kontrolle. Außerdem besetzten sie sieben umliegende Regionen. Die verlor Armenien im Ergebnis eines neuerlichen Krieges vor einem Jahr wieder. Nun liegt die Gemeinde Shurnuch in den Kaukasusbergen mitten auf der neuen Grenze.

Shurnuch in den Kaukasusbergen: Die Durchgangsstraße in der Bildmitte trennt neuerdings einen armenischen und einen aserbaidschanischen Ortsteil. (Foto: André Widmer)

Die kurvige Straße zwischen den Städten Goris und Kapan im Südosten Armeniens verläuft teilweise auf bis zu 2000 Metern Höhe. Zwei längere Abschnitte führen dabei durch aserbaidschanisches Staatsgebiet. Das ist nicht selbstverständlich: Im Herbst vor einem Jahr lieferten sich beide Länder blutige und zerstörerische Kämpfe um Bergkarabach. Rund 7000 Soldaten und etwa 200 Zivilisten starben. Aserbaidschan gewann einen Großteil der Gebiete zurück, die seit den 1990er Jahren armenisch besetzt gewesen waren. Der Krieg endete nach sechs Wochen mit einem von Russland vermittelten Waffenstillstandsabkommen und der Stationierung eines russischen Militärkontingents in der Region.

An der Straße Goris-Kapan wechseln sich nun armenische, russische und aserbaidschanische Observations- und Straßenposten ab. Fahrzeuge mit armenischen Kennzeichen können in Gruppen und relativ problemlos passieren. Jedoch gab es Medienberichte, dass iranische Lastwagenfahrer von den Aserbaidschanern zur Zahlung von Zöllen verdonnert worden seien.

Ein Container als Bleibe

Die Straße durchquert auch das Dorf Shurnuch. Dort lebt Narine Khurshudjan. Sie ist eines der letzten armenischen Opfer dieses Krieges, wobei ihr Schicksal erst einige Wochen nach dem Ende der kriegerischen Handlungen besiegelt wurde. Heute bewohnt die 54-jährige Frau mit ihrem Mann einen von einer armenischen Elektronikfachkette gespendeten Container auf einer Wiese. In dem 15 Quadratmeter großen Raum reicht der Platz für nicht viel mehr als zwei Betten und ein Sofa. Im Vorraum befinden sich ein Holz­ofen und eine kleine Küche. Der Winter dürfte sehr hart werden: Wenn nicht Holz nachgelegt wird, wird es schnell kalt im Container.

Narine Khurshudjan ist Flüchtling im eigenen Dorf. Der vor dem Krieg rund 300 Einwohner zählende Ort wurde aufgrund des nach wie vor schwelenden armenisch-aserbaidschanischen Grenzdisputs geteilt. Während der Großteil des Dorfes in Armenien liegt, gehören zwölf Häuser auf der anderen Seite der Straße Goris-Kapan nun zu Aserbaidschan – darunter auch das Heim von Khurshudjan. Ende 2020 seien plötzlich Aserbaidschaner in Begleitung von Russen gekommen, erzählt sie. „Wir geben euch vier, fünf Tage“, hätten sie gesagt. „Das sei ihr Land und wir hätten zu gehen.“

Weideflächen jenseits der Grenze

Für sie und ihre Familie war das ein harter Schlag, hatte man sich doch in den letzten Jahrzehnten hier eine Existenz aufgebaut. Am 2. Januar verließen sie ihr zweistöckiges Haus, nahmen das Wichtigste mit, darunter die 100 Schafe und 35 Kühe. 60 Schafe verkaufte die Familie zum halben Preis, viele Tiere verlegte sie in die Region Jeghegnadsor. Denn die besten Weideflächen von Shurnuch liegen nun talseitig auf der aserbaidschanischen Seite des Dorfes. Ein Problem auch für andere Dorfbewohner, die bisher Viehwirtschaft betrieben und sich nun ihrer Lebensgrundlage beraubt sehen.

Nun lebt Narine Khurshudjan also fast in Sichtweite ihres alten Hauses, aber dorthin zurückkehren kann sie nicht, auch nicht für einen kurzen Augenblick. Auf dem Dach hätten die Aserbaidschaner Kameras installiert. Der Verlust schmerzt: „Je mehr ich hinschaue, desto schlechter fühle ich mich.“

Ihr Haus ist jetzt im Ausland: Narine Khurshudjan vor dem Wohncontainer, mit dem sie einstweilen zumindest ein Dach über dem Kopf hat (Foto: André Widmer)

Das Dorf Shurnuch – aserbai­dschanisch Surnuxu – hat eine wechselvolle Geschichte: 1830 soll es gemäß des armenischen Autors Saven Korotjan aufgegeben worden sein. Ende des 19. Jahrhunderts existierten noch Ruinen einer Kirche. Dann zogen Aserbaidschaner hierher und stellten lange die große Mehrheit der Bewohner. Von diesem Kapitel zeugt noch heute ein überwucherter Friedhof mit muslimischen Grabsteinen und aserbaidschanischen Namen. 1989, als sich die Konflikte in der Region zuzuspitzen begannen, verließen die Aserbaidschaner das Dorf.

Kriegsfeind vor der Haustür

Bis zum letztjährigen Krieg grenzte Armenien im Osten an vier armenisch besetzte Gebiete. Deshalb war auch die Grenzlage von Shurnuch für dessen armenische Einwohner kein Problem. Das änderte sich jedoch schlagartig mit den Auswirkungen des Krieges. Die bisher nur auf dem Papier existierende Staatsgrenze zwischen Armenien und Aserbaidschan manifestierte sich mit der aserbaidschanischen Kontrolle über die Bezirke Kelbajar, Lachin, Gubadli und Zangilan nun auch de facto und nicht nur de jure. Nach dem Zusammenbruch der Sowjet­union und der staatlichen Unabhängigkeit der beiden Kaukasusländer im Jahre 1991 gab es nie eine Demarkation der Grenzen zwischen ihnen, nicht zuletzt aufgrund des nicht beigelegten Konflikts um Bergkarabach. Nach dem für sie erfolgreichen Waffengang im letzten Jahr beruft sich nun die Republik Aserbaidschan auf alte Karten aus Sowjetzeiten. Armenien hat den Teil Shurnuchs mit den zwölf Häusern kampflos zurückgegeben.

Shurnuch kann durchaus als exemplarisches Beispiel für die verworrene Lage in diesem Teil des Südkaukasus dienen. Geprägt wird sie vom armenisch-aserbaidschanischen Konflikt mit beidseitig historisch unterlegten Ansprüchen, Russlands zumindest temporärer Rolle als Friedensgarant sowie den geopolitischen Interessen Irans, der Türkei und Russlands in der Region. Anfang Oktober erst fand eine iranische Militärübung an der Grenze zu Aserbaidschan statt – im Norden des Irans leben Millionen von ethnischen Aserbaidschanern. Der Iran missbilligt erfolgte Waffenlieferungen aus Israel und befürchtet eine israelische Präsenz im Nachbarland. Schon seit Jahrzehnten ist der Iran ein wichtiger Handelspartner von Armenien.

Großmächte und ihre Interessen

Die Türkei hat Aserbaidschan ebenfalls mit Waffen beliefert. Beide Länder haben schon mehrfach Truppenmanöver abgehalten. Es gibt eine Ölpipeline von Aserbaidschan über Georgien in die Türkei. Russland wiederum, im Rahmen eines Militärabkommens Armeniens Sicherheitsgarant, liegt mit Georgien im Clinch wegen Abchasien und Südossetien. Zu den aktuellen Spannungen meint der Kaukasusexperte Thomas de Waal: „Russland und die Türkei konkurrieren um Einfluss in Aserbaidschan, wobei die Türkei ihre Position als wichtigster Verbündeter und Partner von Baku deutlich gestärkt hat.“ Andererseits seien sowohl Russland als auch die Türkei daran interessiert, westliche Akteure in der Region marginalisiert zu halten. „Und Aserbaidschan, die Türkei und Russland haben ein gemeinsames Interesse an einer Transportroute entlang des Flusses Aras. Der Iran kann auch wirtschaftliche Vorteile aus der Wiedereröffnung von Verkehrswegen ziehen, ist aber besorgt über die neue starke Achse Aserbaidschan-Türkei und versucht daher, Armeniens schwache Hand so gut wie möglich zu stärken.“

Von den zwölf Familien, die ihre Häuser in Shurnuch räumen mussten, sind einige weggezogen. Wie lebt es sich für die Verbliebenen mit dem Kriegsfeind auf der anderen Straßenseite? „Man wäre dumm, nicht ängstlich zu sein“, sagt Narine Khurshudjan. Etwas Licht am Horizont gibt es für sie und die anderen dennoch: Die armenische Regierung lässt am höher gelegenen Dorf­rand von Shurnuch neue Häuser bauen, die nächstes Jahr bezugsfertig sein sollen. Die Grund­mauern einiger Gebäude stehen bereits. Wie Zehntausende Flüchtlinge aus Bergkarabach, die heute in Armenien teils noch immer in provisorischen Unterkünften leben, haben Khurshudjan und ihr Mann staatliche Unterstützung in Höhe von 68.000 armenischen Dram (etwa 120 Euro) erhalten. Doch seit vier Monaten stünden die Zahlungen aus, berichtet die Frau. Sie fühlt sich vergessen.

André Widmer

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