In der georgischen Hauptstadt Tiflis sind ukrainische Fahnen ein gewohnter Anblick. Das allgegenwärtige Blau-Gelb lässt keine Zweifel daran, wie groß die Unterstützung für die Ukraine ist. Gleichzeitig belastet jedoch der unterschiedliche Umgang mit Russland die Beziehungen zwischen beiden Ländern seit Monaten. Die militärische Konfrontation mit dem großen Nachbarn, eigentlich ein gemeinsamer Nenner, brachte sie wider Erwarten nicht näher zusammen.
Keine Sanktionen gegen Russland – kein Botschafter. Mit dieser Begründung ließ der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Anfang März seinen diplomatischen Vertreter aus Georgien abberufen. Georgiens Weigerung, Sanktionen gegen Russland zu verhängen, stieß der ukrainischen Führung sauer auf. Zudem blockierte Georgien im März einen Charterflug, der georgische Freiwilligenkämpfer in die Ukraine bringen sollte. Waffen wollte das Südkaukasus-Land ebenfalls nicht liefern.
Von da an ging es weiter bergab. Im April warf Kiew Georgien vor, für Russland als Transitland für Schmuggelwaren zu dienen, die auch für militärische Zwecke eingesetzt werden könnten. „Ich kann nicht glauben, dass ihr, unsere Brüder und Schwestern, es Russland erlaubt, Waffen zu schmuggeln“, versuchte die ukrainische Vize-Premierministerin Irina Wereschtschuk die Georgier zu beschämen.
„Brüder und Schwestern“
Die Führung in Tiflis reagierte empört und verlangte Beweise. Andernfalls werde man die ukrainischen Vorwürfe als geplante Desinformationskampagne werten, die auf innere Unruhen in Georgien abziele. So groß war der Unmut über Kiews Anschuldigungen, dass der georgische Parlamentspräsident Schalwa Papuaschwili Anfang April sogar Kiews Einladung in die ukrainische Stadt Butscha ausschlug.
Georgiens Zurückhaltung beim Thema Sanktionen hat Regierungschef Irakli Garibaschwili bereits mehrfach erklärt. Tiflis verurteile zwar Russlands Handlungen aufs Schärfste und sei bereit, der Ukraine mit humanitärer Hilfe beizustehen, lasse sich zugleich aber von nationalen Interessen leiten. Sanktionen gegen Russland würden Georgien nur schaden, betonte er.
Georgien hat begründete Sorgen. Als Land, das einen militärischen Konflikt mit Russland hinter sich hat, ist es nicht gerade erpicht darauf, eine neue Konfrontation zu riskieren. Georgien werde nie eine „zweite Front“ gegen Russland eröffnen, erklärte Garibaschwili. Die Diskussion um eine „zweite Front“ geht auf eine Aussage des Chefs des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine, Alexej Danilow, zurück. Dieser hatte vor mehreren Wochen Georgien aufgerufen, dem Beispiel der Ukraine zu folgen und „sein Land“ – sprich Abchasien und Südossetien – zurückzuerobern. Die umstrittene Aussage kam nicht einmal bei der georgischen Opposition gut an. Dieser wird oft vorgeworfen, sie wünsche sich einen Krieg mit Russland.
Unterstützung ja, Sanktionen nein
„Das größte Verdienst der georgischen Regierung ist es, dass ihr eine Gratwanderung gelang und der Konflikt in der Ukraine nicht auf georgisches Territorium übergeschwappt ist“, sagt Alexandre Machatadse, Vertreter der Regierungspartei „Georgischer Traum“ in der westgeorgischen Stadt Lantschchuti. Das sei auch die mehrheitliche Meinung in der georgischen Gesellschaft. Einer Umfrage der georgischen Meinungsforschungsagentur GORBI von Ende März zufolge halten es etwa 65 Prozent der Georgier für richtig, dass Tiflis keine Sanktionen gegen Russland verhängte. Gegen eine Verwicklung Georgiens in den Konflikt sprachen sich mehr als 76 Prozent aus.
Kiews scharfe Kritik hält Machatadse für ungerecht. „Auf allen Ebenen und in allen Institutionen – sei es der Europarat, die OSZE oder die UNO – hat sich Georgien allen Resolutionen gegen Russland angeschlossen und seine Unterstützung für die Ukraine demonstriert.“ Zudem nehme sein Land ukrainische Flüchtlinge mit offenen Armen auf und helfe ihnen mit humanitären Gütern. Damit mache Georgien praktisch alles, was in seiner Macht stehe. Die ukrainische Forderung nach Sanktionen komme ihm seltsam vor. Die Vorstellung, das kleine Georgien könne seinem Riesennachbarn mit wirtschaftlichen Sanktionen schaden, findet er unseriös.
Georgien ohne Beitrittsstatus
Die Ukraine und Moldau wurden im Juni zu EU-Beitrittskandidaten. Georgien ging leer aus. Das Land muss nun an zwölf Auflagen arbeiten, um ebenfalls eine Empfehlung für den Status eines Beitrittskandidaten zu erhalten.
Viele Georgier – darunter auch der Premierminister selbst – sind jedoch der Meinung, ihr Land sei unfair behandelt worden. Er sei „natürlich nicht neidisch“ und freue sich für die Ukraine und Moldau, sagte Garibaschwili. „Aber von den drei Staaten hat Georgien diesen Status am meisten verdient.“ Weiter ging er den ukrainischen Politiker David Arachamia an: Dieser habe der EU und den USA mit Nachdruck davon abgeraten, Georgien einen Beitrittskandidatenstatus zu verleihen. Arachamia wies dies als Falschinformation zurück.
Der georgische Politologe Gela Wassadse äußerte gegenüber der russischen Zeitung „Kommersant“ die Vermutung, die Entscheidung der EU-Kommission habe weniger mit unzureichenden demokratischen Reformen und mehr mit Georgiens pragmatischer Zurückhaltung gegenüber Russland zu tun. Der Westen habe sich von Tiflis eine klarere Positionierung gegen Moskau gewünscht.
„Eher Verwunderung als Wut“
Die georgische Gesellschaft habe auf die Entscheidung europäischer Spitzenpolitiker mit Enttäuschung reagiert, sagt Alexandre Machatadse. „Es gab aber eher Verwunderung als Wut. Denn selbst nach Einschätzung des Europäischen Parlaments war Georgien der Ukraine und Moldau um einiges voraus.“ Die Ukraine habe ihren Beitrittsstatus nur dem heutigen Konflikt zu verdanken, sonst hätte sie davon „nur träumen können“.
Die Unzufriedenheit vieler Georgier richte sich jedoch gegen einzelne ukrainische Politiker, nicht gegen das Land selbst, stellt der Politiker klar. Auch glaube er nicht daran, dass diese Politiker die Meinung der gesamten Regierung in Kiew repräsentierten. Die Unterstützung für die Ukrainer sei in der georgischen Gesellschaft nach wie vor groß. Georgien sei schließlich für seine Gastfreundschaft bekannt, insbesondere gegenüber Menschen in Not. Auch Auseinandersetzungen auf politischer Ebene könnten daran nichts ändern.
Tina Akumowa