Aljoscha muss weg

Russlands „Sonderoperation“ hat in Nachbarländern Bestrebungen Auftrieb gegeben, sich weiter vom großen Nachbarn abzugrenzen. Dafür werden massenhaft Kriegsdenkmäler eingestampft oder in Museen verlegt. Darunter auch Aljoscha im lettischen Rezekne.

Litauen, Merkine: Dieses Denkmal in einer südlitauischen Gemeinde zerbrach bei seinem unter großer öffentlicher Anteilnahme erfolgten Abriss im Mai in zwei Teile. Bürgermeister Algis Kašėta sagte anschließend, nun habe wirklich der letzte sowjetische Soldat diese Gegend verlassen. (Foto: ren-tv)

Die Rote Armee kam von Norden und von Süden, sie stieß zentral vor und hatte Unterstützung aus der Luft. Nach acht Stunden ununterbrochener Gefechte mussten sich die Deutschen am 27. Juli 1944 aus Rezekne zurückziehen. Die Kleinstadt im Osten Lettlands war befreit. Wobei: Soll man das wirklich so nennen – „Befreiung“? Darüber herrscht auch 78 Jahre später in Rezekne und anderswo keine Einigkeit.

Und nun werden Fakten geschaffen: In Lettland müssen 69 sowjetische Kriegsdenkmäler, die an die damaligen Ereignisse erinnern, bis 15. November abgerissen werden. So hat es die Regierung Mitte Juli verfügt. Zuvor war in der Saeima, dem lettischen Parlament, ein Gesetz gebilligt worden, das die „Zurschaustellung von Objekten, die das Sowjet- und das Nazi-Regime verherrlichen“, verbietet.

Auch Rezekne hat so ein Soldatendenkmal, die Einheimischen nennen es Aljoscha. Es war der Ort, wo bisher der 9. Mai gefeiert wurde, wo Frischvermählte Blumen ablegten, stolz und dankbar. Solche Traditionen werden von der russischen Minderheit auch in Lettland hochgehalten. In Rezekne, das nur 50 Kilometer von der russischen Grenze entfernt ist, stellt sie ungefähr die Hälfte der Bevölkerung. Früher einmal war die Stadt mehrheitlich jüdisch besiedelt. Wie die Deutschen hier gewütet haben, lässt sich unter anderem daran ablesen, dass heute nur noch wenige Juden in Rezekne leben.

„Symbol des Bösen“

2010 überstand Aljoscha bereits einen Farbanschlag und vor zwei Jahren eine Art Misstrauensantrag. Eine Initiativgruppe forderte damals von der Stadt, das Denkmal zu entfernen. Es sei zum „Symbol des Bösen“ geworden, das die Sowjetmacht Lettland und Rezekne angetan hätten, hieß es in dem Schreiben mit 26 Unterschriften. Auszug: „Die Befreier‘ haben Lettland von der Freiheit, der Heimat (Deportation) und von Besitz (Nationalisierung und Kollektivierung) befreit.“

Doch der Stadtrat lehnte das Ansinnen ab. Der damalige wie heutige Bürgermeister Aleksandrs Bartaševičs schrieb in einer Kolumne, bei den Kämpfen um Rezekne hätten allein 3000 Sowjetsoldaten ihr Leben gelassen, darunter auch sein Großvater. Wo genau er gefallen sei, wisse wie bei vielen anderen niemand. „Er hat für die Freiheit seiner Heimat gekämpft, Lettland von den Faschisten befreit. Und weil es kein Grab gibt, auf das ich Blumen legen könnte, lege ich sie am Denkmal für die Befreier ab.“

Lettland, Rezekne: Das Soldatendenkmal wandert ins Museum. (Foto: rzhavin77.livejournal.com)

Künftig wird das nun nicht mehr möglich sein. Aljoscha muss weichen. Der Stadtrat versuchte es noch mit einem Kompromiss und wollte ihn aus der Ortsmitte auf dem Friedhof verlegen. So hätte er zumindest vor Ort bleiben können. Doch das Ministerium für Umweltfragen und regionale Entwicklung, zuständig für die Umsetzung der Gesetze, blieb hart. Immerhin wird das Denkmal nicht einfach zerlegt, sondern ins „Okkupations­museum“ nach Riga gebracht. Vom Befreier zum Okkupanten – ein beneidenswertes Schicksal ist das freilich auch nicht.

Mehrheit trägt Vorgehen mit

Doch in Lettland wie im gesamten baltischen Raum und anderen Ländern hat die „Dekommunisierung“ und „Desow­jetisierung“ seit Beginn der russischen „Sonderoperation“ in der Ukraine erneut Fahrt aufgenommen. Und anders als oft in Russland berichtet, sind es beileibe nicht nur die politischen Eliten, die sich des sowjetischen Erbes entledigen und sich damit weiter vom großen Nachbarn im Osten abgrenzen wollen. Das Vorgehen ist zwar nicht unumstritten, gerade in Gegenden mit einem hohen russischen Bevölkerungsanteil wird es auch als Affront gegen sich selbst verstanden. Doch mehrheitlich ist es von der öffentlichen Meinung gedeckt, wie Umfragen zeigen.

Lettland, Daugavpils: Die Tage dieses Denkmals auf dem früheren Ruhmesplatz sind gezählt. (Foto: Heimat- und Kunstmuseum Daugavpils)

Widerstand gibt es kaum. In Lettland wurden zuletzt die Verantwortlichen der zweitgrößten Stadt Daugavpils angezählt, weil sie als einzige im gesamten Land noch keinen Zeitplan für den Abriss von zwei Kriegsdenkmälern vorgelegt hatten. Das Regionalministerium drohte durch mit der Entlassung von Bürgermeister Andrejs Elksniņš und der Auflösung des Stadtrats. Elksniņš konterte, Daugavpils habe erst unlängst Klage gegen das besagte Gesetz beim Verfassungsgericht eingelegt und erwarte eine Antwort. In der Klage machten die Verfasser geltend, die betreffenden Denkmäler verherrlichten nicht wie behauptet die Sowjetmacht, sondern seien dem Gedenken an die Kriegstoten gewidmet.

UN schaltet sich ein, aber zu spät

Das größte sowjetische Ehrenmal im Baltikum wurde bereits Ende August dem Erdboden gleichgemacht. Als letzter Teil des 1985 fertiggestellten Siegesdenkmals in Riga fiel ein 79 Meter hoher Obelisk. Einen Tag später intervenierte der UN-Menschenrechtsausschuss und ersuchte die lettischen Behörden, den Abriss zu stoppen, so dass eine eingegangene Beschwerde geprüft werden kann. Doch da war es bereits zu spät. Die russische Botschaft in Lettland bezeichnete den Abriss als „Staatsvandalismus, eklatante Willkür und Verhöhnung des Gedenkens an die Opfer“.

Im benachbarten Litauen hat die Behörde für das kulturelle Erbe 65 Denkmäler ausgemacht, deren Status zu überprüfen sei und die gegebenenfalls in den Grutas-Park abgeschoben werden müssen, wo Skulpturen aus Sowjetzeiten ausgestellt sind. Abbrucharbeiten laufen bereits seit März. Inzwischen steht fest, dass auch das größte Mahnmal, bestehend aus sechs überlebensgroßen Soldatenfiguren, nicht auf dem Friedhof Antakalnis in Vilnius bleiben kann. Bürgermeister Remigijus Šimašius sprach in diesem Zusammenhang von einer „schrecklichen sowjetischen Angewohnheit, Friedhöfe in ideologische Memoriale zu verwandeln“. Auf dem Friedhof Antakalnis sind mehrere Tausend Sowjetsoldaten begraben, die im Juli 1944 bei den Kämpfen um Vilnius fielen.

In Estland sollen bis Jahresende alle sowjetischen Kriegsdenkmäler aus dem öffentlichen Raum verbannt werden. Ihre Zahl wird auf 200 bis 400 geschätzt.

Litauen, Vilnius: Dieser Figurengruppe auf einem früheren Soldatenfriedhof steht der Abriss bevor. (Foto: Wikimedia Commons)

In Polen wurden in den letzten Jahren mehrere Hundert Sowjetdenkmäler abgeräumt. Im Frühjahr teilte das Institut für Nationales Gedenken mit, dasselbe Schicksal werde 60 weitere Denkmäler ereilen.

Lenin nicht mehr wohlgelitten

Mitte Juni wurde bekannt, dass die finnische Ostseestadt Kotka ihren Lenin nicht länger im Stadtzentrum duldet. Die Büste war ein Geschenk der Partnerstadt Tallinn in Estland, ihren bisherigen Stammplatz nahm sie 1979 ein, als Estland noch zur Sowjetunion gehörte. Nun kommt sie nur noch Museumsbesuchern unter die Augen. Damit wurde Finnlands letzter Lenin aus der Öffentlichkeit verbannt. Im April war eine Lenin-Büste in Turku abgebaut worden.

Finnland, Kotka: Für Lenin ist hier kein Platz mehr. (Foto: Wikimedia Commons)

Doch ins Visier geraten nicht nur Soldatendenkmäler oder Sowjetpolitiker. Im estnischen Narva an der Grenze zu Russland wurde ein Panzer vom Typ-34 vom Sockel gehauen, auf dem er seit 1964 gestanden hatte. Er erinnerte an die erbitterte Schlacht an der sogenannten Tannenberg-Linie, die von der Wehrmacht um jeden Preis gehalten werden sollte. Doch im Sommer 1944 eroberte die Sowjetarmee Narva nach drei Jahren deutscher Besatzung unter entsetzlichen Verlusten zurück. Nun steht der Panzer in einem Militärmuseum.

Estland, Narva: Ein T-34 wird weggeschafft. (Foto: Twitter/ moondragon_wkad)
Lettland, Skulte: Noch einmal hob die sowjetische Il-28 Ende Juli ab. Nun soll sie verschrottet werden. (Foto: RIA Novosti)

Im lettischen Skulte, einem Vorort von Riga, wurde derweil ein Bomber vom Typ Il-28 losgeschweißt. Er war zu Ehren einer Fliegerstaffel aufgestellt worden, die 1941 als erste Berlin bombardiert hatte. Ein Luftfahrtmuseum ist bereit, das Flugzeug aufzunehmen. Vorsorglich wurde bereits der Sowjetstern am Heck übermalt. Doch das Kulturministerium besteht auf der kompletten Zerstörung der Iljuschin.

Tino Künzel

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