Als „Wolfskind“ in Litauen

In den Wirren des letzten Kriegsjahres 1945 wurden sie von ihren Eltern getrennt und waren fortan auf sich allein gestellt: Es sollen Tausende Halbwüchsige gewesen sein, die es aus Ostpreußen ins benachbarte sowjetische Litauen verschlug. Die Litauerin Ruta Matimaityte promoviert zum Schicksal dieser „Wolfskinder“, mit dem sie in der eigenen Familie konfrontiert wurde.

Ruta Matimaityte und ihre Tante, das „Wolfskind“ (Foto: Privat)

All die Jahre hatte sie keine Ahnung, was es bedeutete, wenn andere ihre Tante „Wolfskind“ nannten. Sie war ja selbst fast noch ein Kind. Aufgewachsen in einer behüteten Zeit, umgeben von einer fürsorgenden Familie. Ihre Gedanken, ihre Sorgen kreisten um andere Dinge, Kinderdinge. Und vielleicht erinnert sich Ruta Matimaityte deswegen auch so genau daran wie es war, als ihre Mutter ihr die Geschichte ihrer Tante erklärte. Wie die als kleines Mädchen mit ihrem etwas älteren Bruder nach dem Krieg durch das Land gezogen war, auf der Suche nach etwas zu essen. Allein, ohne Mama und Papa. Wie Hänsel und Gretel streiften die beiden durch die Gegend. Zwei Königskinder, von der Welt vergessen.

Sie sagt, sie sei schockiert gewesen, erschrocken. Natürlich hatte sie in der Schule vom Krieg und von Ostpreußen gehört. Aber diese Geschichten verband sie mit Erwachsenen. Dass zu Erwachsenen auch Kinder gehören und damit auch zum Krieg, das wurde ihr erst in diesem Moment klar.

Wo einst Ostpreußen endete

Ruta Matimaityte, 27 Jahre alt, sitzt in einem Café unweit von ihrem Zuhause in Litauen. Die Menschen an den Tischen drumherum trinken, sie lachen, erzählen sich lustige Geschichten. Sie ist in einem Dorf eine Autostunde von der Ostseestadt Klaipeda aufgewachsen, dort, wo sich die Memel in eleganten Kurven ins Land legt. Der Fluss lieh der Region früher seinen Namen, Memelland. Hier endete Ostpreußen. Aber das ist lange her.

Ostpreußen, heute die russische Exklave Kaliningrad, und Nachbarstaaten auf einer Vorkriegskarte (Foto: Wikipedia)

Ruta Matimaityte ist eine junge hübsche Frau, ihre großen Augen sind umgeben von weichen Gesichtszügen. Man kann darin noch immer das Mädchen von früher erkennen. Vermutlich könnte sie auch als Model arbeiten, sie aber bewegen andere Dinge; die Erfahrungen ihrer Tante haben sie geprägt.

Ruta Matimaityte hat ihren Master zum Thema „Kindheit im Nachkriegslitauen“ geschrieben, aktuell arbeitet sie an ihrer Doktorarbeit mit dem etwas sperrigen Titel „Einwanderung von Kindern nach Sowjetlitauen in den Jahren von 1944 bis 1960“. Sie sagt: „Für mich ist es wichtig, die Geschichte zu bewahren. Sie hilft mir, Zusammenhänge zu verstehen.“

Der Tag, an dem sie die Mutter holten

Ihre Tante – geboren im ostpreußischen Skörin – war zwei Jahre alt, als sie mit ihrem fünfjährigen Bruder Siegfried von Ostpreußen Richtung Litauen von einem Hof zum anderen irrte. Der Vater galt seit seiner Einberufung als vermisst. Die Mutter hatten sowjetische Soldaten verschleppt. An dem Tag, an dem sie verschwand, hatte sie, die Mutter, mit einer Freundin nur eben Wasser vom Hof holen wollen. Dann kamen die Männer. Die Freundin erstochen sie sofort. Die letzte Erinnerung, die die Tante an diese Stunden hat, ist die Erinnerung an die Soldaten. Wie die uniformierten Männer die blutende Mutter auf den Wagen heben.

Auf der Suche nach Essen klapperten die hungrigen Kinder die Gehöfte ab. Für ein Stück Brot schrubbten sie Böden, putzten Ställe. Manchmal gab es als Gegenleistung eine Suppe aus Kartoffelschalen, manchmal gab es mehr als eine Jacke als Unterlage vor dem Ofen zum Schlafen. Manchmal betrog sie der Bauer ums Essen.

So wie die Tante von Ruta Matimaityte zogen damals Tausende ostpreußische Kinder von einem zerschossenen Hof zum anderen. Sie hungerten, froren; verwaist, von ihren Familien getrennt.

Vorträge vor litauischen Schulkindern

Für ihre Masterarbeit hat Ruta Matimaityte viele von ihnen interviewt; mit ihren Dokumentationen geht sie heute an die Schulen. Spricht sie vor den Kindern, kann sie deren Betroffenheit spüren. Sie hört den Atem, fühlt die Stille. In Momenten wie diesen weiß sie, dass sie den richtigen Ton getroffen hat.

Ihre Tante ist heute 79 Jahre alt. Es geht ihr gut. Eigentlich geht es ihr gut. Denn ganz hat die Zeit die alten Wunden nicht heilen können. In einem Video spricht sie über die Erlebnisse, man kann sich den Film im Internet ansehen. Darin erzählt sie von ihrer Zeit als „Wolfskind“ auf dem Hof bei einer deutschen Familie und wie schlimm es dort gewesen ist. Wie die Bauern ihr ranzige Butter aufs Schulbrot schmierten und ihr befahlen, es zu essen, während sie selbst an einem langen Tisch mit gebackenen Waffeln saßen. Einmal stibitzte sie zwei Waffeln, zur Strafe prügelten die Bauern sie blutig. Sie rannte auf eine Wiese, versteckte sich hinter Weiden und wartete dort auf ihre Mama. Aber die kam nicht. Die Tante weint, während sie davon erzählt.

Fragt man Ruta Matimaityte, was sie mit ihrer Tante verbindet, dann sagt sie: „Von ihr habe ich Empathie und Stärke gelernt – und mein Interesse für Geschichte.“

Viele Wolfskinder hat das Leben gebrochen, für viele endete die Kindheit in einem Waisenhaus. Für die Tante von Ruta Matimaityte zeigte sich das Schicksal versöhnlich. Sie war acht oder neun Jahre alt, als plötzlich eine Frau in langem Mantel und übergroßen Schuhen vor ihr stand. Sie hat ihre Mutter erst nicht erkannt.

Marion Hahnfeldt

Die kleinen Deutsche

Nach dem Zweiten Weltkrieg und in den letzten Kriegstagen flüchteten Tausende nach Hitlers verlorenem Krieg aus Ost- und Westpreußen, aus Schlesien und Pommern in den Westen. Die Zeit der großen Abrechnung war herangebrochen, die nächste Tragödie nahm ihren Lauf. Und während es den Flüchtlingstreck immer weiter westwärts zog, machten sich im nördlichen Ostpreußen zumeist Waisen in die umgekehrte Richtung auf den Weg.

Die „Wolfskinder“ schlugen sich Richtung Litauen durch, wo sie ein besseres Leben vermuteten. Man nannte sie dort „vokietukai“ – kleine Deutsche. Sie bettelten sich von Hof zu Hof, versuchten zu überleben und mussten dabei vergessen, wer sie waren. Sie nahmen litauische Namen an, lernten eine neue Sprache, weil alles andere zu gefährlich war.

An die 5000 „Wolfskinder“ soll es gegeben haben. Viele von ihnen verdingten sich als Knechte und Mägde, andere wurden von litauischen oder verbliebenen deutschen Familien aufgenommen. Die Erfahrungen waren oft traumatisch. Manche kamen in sowjetische Waisenhäuser, aber es gab auch Fälle großer Menschlichkeit. Die meisten Wolfskinder verließen Litauen Ende der 1950er Jahre. Andere kehrten dem Land in den Jahrzehnten darauf den Rücken, einige erst im Alter, in den 1990er Jahren, als der Eiserne Vorhang verschwunden war.

Es sind etliche Bücher zum Thema erschienen; unter anderem „Wolfskinder: Grenzgänger an der Memel“ (nur noch antiquarisch), Ruth Kibelka, ISBN 978-3861630647; „Wir sind die Wolfskinder: Verlassen in Ostpreußen“, Sonya Winterberg, Piper, 978-3492302647; „Ostpreußische Wolfskinder“, Christopher Spatz, fibre-Verlag.

Mehr zu Angehörigen von deutschen Minderheiten in aller Welt lesen Sie im Blog „German Heimat“ von Marion Hahnfeldt unter
germanheimat.com

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