Flüchtlinge aus Bergkarabach: Rückkehr in Trümmer

Als Armenien und Aserbaidschan das letzte Mal Krieg um Bergkarabach führten, fiel die kleine Region auf aserbaidschanischem Staatsgebiet Anfang der 1990er Jahre in die Hände der Armenier, die auch noch angrenzende Gebiete unter ihre Kontrolle brachten. Jetzt hat Aserbaidschan in einem zweiten Krieg den alten Status quo zu großen Teilen wiederhergestellt. Hunderttausende Flüchtlinge hoffen auf eine baldige Rückkehr.

Das Dorf Tapkarakoyunlu in Aserbaidschan ist vom Beschuss durch Kriegsgegner Armenien gezeichnet. (Foto: André Widmer)

Das Ende kam überraschend. Am 9. November wurde nach sechs Wochen Krieg um Bergkarabach ein von Russland vermittelter Waffenstillstand zwischen Armenien und Aserbaidschan unterzeichnet. Kurz zuvor hatte das aserbaidschanische Militär die strategisch wichtige Stadt Schuscha eingenommen – und angeblich aus Versehen einen russischen Kampfhelikopter abgeschossen. Die Vereinbarung sieht vor, dass russische Friedens­truppen in den kommenden fünf Jahren die Sicherheit in dem seit den 1990er Jahren armenisch kontrollierten Gebiet Bergkarabach gewährleisten und dass die Armenier ihre Besetzung von umliegenden Gebieten wie Latschin, Kalbadschar und Agdam aufgeben.

Im Verlaufe der Kämpfe hatten die Aserbaidschaner rund 200 Dörfer und damit rund die Hälfte des vor fast drei Jahrzehnten verlorenen Territoriums zurückerobert. Den armenischen Einheiten drohte die Einkesselung. Nach rus­sischen Schätzungen verloren auf beiden Seiten rund 5000 Soldaten ihr Leben.

Vorzeichen der Eskalation

Ein erster Krieg um Bergkarabach war 1994 mit einem Waffenstillstand zu Ende gegangen. Er hinterließ 30.000 Tote. Rund 250.000 Armenier flüchteten aus Aserbaidschan, etwa 800.000 Aserbaidschaner wurden zu Binnenflüchtlingen. Fast 20 Prozent des international anerkannten Territoriums Aserbaidschans wurden armenisch besetzt: neben dem mehrheitlich von Armeniern bewohnten Bergkarabach auch die zu rund 90 Prozent aserbaidschanisch besiedelten Gebiete Kalbadschar, Latschin, Fizuli, Qubadli, Zangilan, Agdam und Jabrail – doppelt so groß wie Bergkarabach selbst.

In Rahmen der sogenannten Minsk-Gruppe der OSZE und bei vielen bilateralen und vermittelten Treffen wurde über 20 Jahre um eine diplomatische Lösung gerungen. Doch daraus wurde nichts, weil beide Seiten nicht von ihren Maximalforderungen abrücken wollten. Die Armenier bestanden auf ihrem Recht zur Selbstbestimmung und deklarierten eine unabhängige Republik Bergkarabach, nennen diese nun Arzach. Die Aserbaidschaner wiederum forderten die umliegenden Gebiete zurück und boten für Bergkarabach eine weitgehende Selbstautonomie innerhalb Aserbaidschans an.

Doch mit dem durch die „Samtene Revolution“ 2018 und anschließende Neuwahlen an die Macht gekommenen armenischen Premier Nikol Paschinjan wurde der Ton rauer. 2019 nannte Paschinjan die Vereinigung Armeniens mit Bergkarabach als Ziel. Im September dieses Jahres schließlich wurde angekündigt, dass das Parlament von Bergkarabach nach Schuscha zu verlegen – in eine Stadt, die Aserbaidschan als Wiege seiner kulturellen Errungenschaften in Literatur und traditioneller Musik sieht und deren Bevölkerung bis zum ersten Krieg zu drei Viertel aus Aserbaidschanern bestand. Nun ist Schuscha wieder unter Kontrolle Aserbaidschans.

Zurück in die alte Heimat

Als im Oktober der Krieg noch tobte, war der Autor dieses Artikels in Aserbaidschan nahe der Frontlinie und in Reichweite der arme­nischen Artillerie. Damals lebten in der Flüchtlingssiedlung Mugovusan am Rande der Kleinstadt Terter in 34 Wohnblocks rund 1100 Flüchtlinge aus dem ersten Krieg um Berg­karabach von 1991 bis 1994. Viele von ihnen und ein Großteil der einheimischen Bevölkerung Terters flüchteten nun vor den erneuten Kämpfen, darunter ins benachbarte Barda und umliegende Ortschaften. Nur wenige Männer blieben in der Flüchtlingssiedlung zurück, harrten in Luftschutzräumen aus. So auch Xaliq Hümbetov. Sein Herz ist aber woanders und die Hoffnung groß, dass in Wochen oder Monaten eine Rückkehr, zumindest aber ein erster Besuch in der Heimat möglich sein wird: „Unsere Häuser sind nicht hier, sie sind dort“, sagt Xaliq Hümbetov.

Flüchtlinge aus Bergkarabach, die während des Sechs-Wochen-Kriegs notdürftig in einer Schulturnhalle untergebracht wurden, weil sie in ihrer Flüchtlingssiedlung nicht mehr sicher waren. (Foto: André Widmer)

Dort, das ist für ihn Magadiz, ein Dorf, das die Armenier besetzt hielten und das zuletzt von der aserbaidschanischen Armee zurückerobert wurde. Das Verteidigungsministerium in Baku veröffentlicht regelmäßig Bilder von befreiten Dörfern. Auf einem der Videos hat Hümbetov sein früheres Haus erkannt – oder was davon übrig geblieben ist. Als damaliger Bauer und Viehhalter musste er 1993 fliehen, verlor seine Eltern im Krieg. Seine Großeltern sind in Magadiz begraben. Dorthin würde Hümbetov lieber heute als morgen aufbrechen. „Warum sollte ich in der Flüchtlingssiedlung bleiben wollen?“, fragt er.

In der Schusslinie

So wie Hümbetov blicken in Aserbaidschan Hunderttausende Flüchtlinge der Rückkehr in ihre befreiten, aber vielerorts in Trümmern liegenden Dörfer in und um Bergkarabach entgegen. Andern­orts wie in Tapkarakoyunlu bei der Stadt Naftalan ist nun Ruhe eingekehrt. Noch vor Kurzem lag das Dorf unmittelbar an der Frontlinie. Gegenüber seines südlichen Teils befand sich eine armenische Position, nur 150 Meter von einem Wohngebiet entfernt. Entlang einer Straße hat man eine meterhohe Mauer zum Schutz errichtet. Tapkarakoyunlu war in den letzten Jahren bekannt für den Beschuss durch armenische Scharfschützen, Einschusslöcher an den Häusern zeugen davon.

Aserbaidschanische Fahne am Fahrradlenker: Der Krieg hat den Patriotismus auf beiden Seiten noch einmal angefacht. (Foto: André Widmer)

Auch Kamil Allahverdiev erhöhte schon vor einigen Jahren eine Mauer seines Hauses. Zum Wasserkanal und den Granatäpfeln im früheren Niemandsland zwischen armenischer Stellung und aserbaidschanischem Dorf konnte er praktisch nur nachts – auch, um den von den Armeniern aufgestauten Kanal wieder zu öffnen. Das ist nun wieder möglich, ohne Angst zu haben.

Brennende Häuser hinterlassen

Für Allahverdiev, der im ersten Krieg nach eigenen Angaben zusammen mit seinem Vater von den Armeniern verhaftet und monatelang festgehalten wurde, schien noch während der Kampfhandlungen klar: „Ich kenne die Armenier. Die werden die Territorien nicht auf dem Verhandlungsweg zurückgeben.“ Unter dem Druck Russlands ist dies aber nun doch geschehen. Die armenische Bevölkerung hat die Region teilweise bereits verlassen. Bevor sie ihre Wohnorte im Bezirk Kalbadschar räumten, die laut Abkommen künftig wieder unter aserbaidschanischer Verwaltung stehen werden, zündeten viele noch die Häuser an, in denen sie zuvor mehrere Jahrzehnte gelebt hatten.

André Widmer

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