Sergijew Possad: Dreifaltig und mannigfaltig

Von allen Städten des Goldenen Rings ist Sergijew Possad die Moskau am nächsten gelegene. 70 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt gibt es vor allem das größte und bedeutendste Kloster des Landes zu sehen, aber bei Weitem nicht nur.

Das Dreifaltigkeitskloster hat Sergijew Possad auf die touristische Landkarte gebracht. Davon hoffen in der Stadt auch Kultur- und Handwerkseinrichtungen zu profitieren. (Foto: Tino Künzel)

„So eine überteuerte Seife ist die reinste Geldverschwendung“, schimpft der ältere Herr. Er hat sich im Seifenladen von Sergej umgesehen, nun geht er wieder, ohne etwas gekauft zu haben. Wieder einmal konnte Sergej seine Ware nicht an den Mann bringen. Eigentlich ist der 25-Jährige gelernter Schauspieler. In Sergijew Possad mit seinen gut 100 000 Einwohnern gibt es ein professionell betriebenes Theater, das sich durchaus großer Beliebtheit erfreut. Dort hat sich Sergej allerdings erfolglos beworben. Und weil er seine Heimatstadt nicht verlassen möchte, setzt der junge Mann seine Schauspieltalente nun eben im Einzelhandel ein.

Handwerk ohne goldenen Boden

Im Seifenladen riecht es wie in einer Parfümerie. Ein Stück handgemachte Seife kostet umgerechnet sechs Euro. Das schreckt potenzielle Käufer oft ab. „Die Seife wird in unserer eigenen Manufaktur hergestellt und nur mit Naturaromen“, erklärt Sergej. „Wir wollen ein altehrwürdiges Handwerk wiederbeleben, das hier im 19. Jahrhundert seine Blüte erlebte.“ Leider sähen viele Kunden nur den Preis. Hochwertige Handwerkserzeugnisse würden nicht gebührend geschätzt, klagt Sergej.

Ob man nun etwas kauft oder nicht – die stimmungsvollen Handwerksläden und -manufakturen in Sergijew Possad sind auf jeden Fall sehenswert. Wobei die Geschäfte nicht nur bei Sergej eher schleppend zu laufen scheinen und die Handwerker offenbar von der Hand in den Mund leben.   

Dass Sergijew Possad mit dem Dreifaltigkeitskloster einen Besuchermagneten erster Güte zu bieten hat, ist dabei Fluch und Segen zugleich. Einerseits ist die UNESCO-Weltkulturerbestätte der Grund dafür, dass der Ort überhaupt so viele Gäste aus Nah und Fern anzieht. Andererseits ist es oft auch das Einzige, was sie besichtigen. „Alle wollen nur ins Kloster“, schüttelt Sergej den Kopf, „und bleiben lediglich ein paar Stunden. Für Museen und Handwerksbetriebe haben die meisten keine Zeit. Die Hotels warten vergeblich auf Touristen und im Stadttheater trifft man fast nur Einheimische“. 

„Vatikan des Ostens“

Das Kloster der Dreifaltigkeit, auch benannt nach seinem Gründer, dem Kirchenheiligen Sergius von Radonesch, wird sogar Moskau-Städte­reisenden als Ausflugsziel empfohlen und mitunter als „Vatikan des Ostens“ bezeichnet. Einen Besuch in Sergijew Possad sollte man auf jeden Fall hier beginnen. Das 1337 gegründete Kloster mit seinen 14  Kirchen ist der einzige Ort in der Stadt, der bisweilen etwas hektisch und überlaufen wirkt. Dafür wartet es mit Meisterwerken der russischen Kirchenarchitektur auf, wie etwa der Dreifaltigkeitskathedrale aus dem 15. Jahrhundert, der Nikon-Kirche und der Mariä-Entschlafens-Kathedrale aus dem 16.  Jahrhundert, dem Refektorium (Speisesaal) aus dem 17.  Jahrhundert sowie der Michei-Kirche und dem 88 Meter hohen Glockenturm aus dem 18. Jahrhundert.

Auf dem Gelände befindet sich auch die Dienstresidenz des Moskauer Patriarchen. Sie ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Das heutige Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill, hält im Kloster aber immer wieder Gottesdienste ab. Das geschieht unter freiem Himmel, damit mehr Gläubige daran teilnehmen können als in einer Kirche.

Klosterschätze im Heimat- und Kunstmuseum

1918, im Jahr nach der Oktoberrevolution, wurde das Kloster geschlossen. Seine Sammlung von Kunstgegenständen bildete den Grundstein des 1920 geschaffenen Heimat- und Kunstmuseums von Sergijew Possad. Obwohl das Kloster 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, seine Tätigkeit wieder aufnehmen durfte, was nach dem Willen der Kremlführung zusätzliche Kräfte im Kampf gegen den Feind freisetzen sollte, arbeitet man bis heute eng mit dem Museum zusammen. „Die Kirchenvertreter sind uns dankbar, weil mit Hilfe des Museums viele sakrale Gegenstände erhalten geblieben sind“, erzählt die stellvertretende Museumsleiterin Swetlana Nikolajewa. Einige Schätze seien nach der Wiedereröffnung des Klosters zurückgegeben worden. „Das Museum besitzt aber nach wie vor eine der bedeutendsten Sammlungen von sakralem Gerät, Ikonen, religiösen Plastiken und Malereien in Russland.“

Sergijew Possad hat auch eine lange Tradition bei der Herstellung von Matrjoschkas, weshalb die Schachtelpuppe natürlich auch im Heimat- und Kunstmuseum nicht fehlen darf. (Foto: Heimat- und Kunstmuseum Sergijew Possad)

Stolz zeigt Nikolajewa sakrales Geschirr aus purem Gold, das der russische Zar Boris Godunow dem Kloster spendete. „Der damalige russische Herrscher wollte mit seiner Familie unbedingt in diesem Kloster begraben werden, was auch tatsächlich geschah. Zu Lebzeiten geizte er deshalb nicht mit seiner Unterstützung“, erzählt sie. Auch andere russische Zaren beschenkten das Kloster reich. So ließ etwa Paul I. gleich seine gesamte Kutsche da, mit der er zum Gottesdienst kam.

Aus der Ikonensammlung sticht eine gestrickte Ikone aus dem ersten Viertel des 15. Jahrhunderts heraus. Sie zeigt den Heiligen Sergius, der von 1314 bis 1392 lebte, wobei Wissenschaftler davon ausgehen, dass die unbekannten Schöpfer ihn persönlich kannten und seine Gesichtszüge mehr oder weniger wahrhaftig wiedergaben.

Das Museum ist zum Teil im Kloster untergebracht und teilt sich seine Räumlichkeiten dort mit den Mönchen. Die meiste Ausstellungsfläche verteilt sich jedoch auf Gebäude in der Altstadt. Man sollte zwei volle Tage einplanen, möchte man alles sehen.

Wo Spielzeug Geschichte(n) erzählt

Unbedingt einen Besuch wert ist in Sergijew Possad auch das Spielzeugmuseum. Es wurde 1931 eröffnet und beherbergt 166 000 Ausstellungsstücke. Sie illustrierten auf ihre Weise die Geschichte Russlands, sagt Museumsleiter Ruslan Gawwa. Gezeigt wird etwa Spielzeug, mit dem die Kinder der Zarenfamilie aufwuchsen, aber auch Massenware aus Sowjetzeiten, die bei so manchem Besucher nostalgische Gefühle hervorruft. Die Puppen sind oft gemäß der jeweiligen Epoche gekleidet, was sehr aufschlussreich sein kann.

Das Museum richtet sich gleichermaßen an Kinder wie Erwachsene. Spielecken und Workshops zum Selberbasteln von Spielzeug runden das Angebot ab. Dem Museum angegliedert ist auch ein kleines, gemütliches Puppentheater.

Berühmter Mäzen, berühmte Tochter

Außerhalb der Stadt, aber ganz in der Nähe ist ein weiteres lohnendes Reiseziel gelegen: das malerische Landgut Abramzewo. Was heute ein Museum ist, gehörte von 1870 bis 1917 dem russischen Industriellen und Mäzen Sawwa Mamontow. Er leistete einen großen Beitrag zu Planung und Bau der Transsibirischen Eisenbahn, deren Streckenführung durch Sergijew Possad verläuft. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass man ihm vor dem eleganten Bahnhof der Stadt ein Denkmal gesetzt hat.

Das Landgut Abramzewo bei Sergijew Possad: Ende des 19. Jahrhunderts gingen hier die berühmtesten russischen Maler ein und aus, darunter Ilja Repin, Isaak Lewitan, Viktor Wasnezow und Valentin Serow. (Foto: Museum Abramzewo)

Selbst künstlerisch veranlagt, unterstützte Mamontow auch russische Maler großzügig. Sie konnten monatelang, vor allem im Sommer, bei voller Pension auf seinem Landgut arbeiten, das zu einer wahren Künstlerkolonie wurde. So entstanden viele Bilder, die das Gut und seine Umgebung zeigen, darunter auch das Meisterwerk „Mädchen mit Pfirsichen“ von Valentin Serow, gemalt 1887. Das darauf abgebildete Mädchen ist Vera, die Tochter von Sawwa Mamontow. Es sitzt an einem weiß gedeckten Tisch in einem hellen Raum, der in zärtliches Sonnenlicht getaucht ist. In Abramzewo sieht es auch heute so aus wie damals, im 19. Jahrhundert. Das Gemälde von Serow hängt allerdings in der Moskauer Tretjakow-Galerie. Auf dem Landgut ist eine Kopie ausgestellt.

Anreise per Auto, Bus und Bahn

Wer das Auto bevorzugt, um nach Sergijew Possad zu gelangen, der nimmt von Moskau aus die Jaroslaw­ler Schosse (M-8) Richtung Jaroslawl. Die Straße ist gut ausgebaut. Das kommt auch dem Bus Nr. 388 zugute, der im 20-Minuten-Takt verkehrt. Abfahrt in Moskau ist vom Busbahnhof WDNCh (in der Nähe des Hotels Kosmos). Die Regelfahrzeit beträgt 1:15 Stunden, das Ticket kostet 240 Rubel, umgerechnet 3,40 Euro. Mit dem Vorortzug vom Jaroslawler Bahnhof in Moskau ist man zum Preis von 192  Rubel (2,70 Euro) zwischen 1:15 und 1:45  Stunden unterwegs.

Ilja Brustein

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