Schrittweise in Richtung Einheit

Ulf Schneider ist ein deutscher Unternehmer in Moskau. Im Jahr 2015 gründete er die Arbeitsgruppe „Lissabon-Wladiwostok”, um konkrete Schritte zu einem gemeinsamen Wirtschaftsraum mit der Eurasischen Wirtschaftsunion zu fördern.

Ulf Schneider ist davon überzeugt, dass die Wirtschaft politische Spannungen überwinden kann. © Schneidergroup

Herr Schneider, was verbinden Sie mit dem 9. November, dem Tag des Mauerfalls?
Das war für mich ein sehr emotionaler Tag, vielleicht der bewegendste Tag meines Lebens. Ich war in der Berufsausbildung, habe östlich von Hamburg gelebt, nur 30 Kilometer von der innerdeutschen Grenze entfernt. Plötzlich habe ich massenweise Anrufe von Freunden erhalten. „Lass uns losfahren. Richtung Osten.“ Aber ich hatte genau am nächsten Morgen eine Prüfung.

Wann ging es dann in Richtung Osten?
Wie gesagt, in der Nacht leider noch nicht. Nach dem Fall der Mauer hat es mich als einen der Wenigen eben nicht nach Westen gezogen, sondern nach Osten. Ich war europapolitisch sehr aktiv und wir wollten unseren Traum von einem vereinten Europa weitertragen. Nicht nur in die neuen Bundesländer, sondern auch nach Polen haben wir schnell Kontakte aufgebaut. Später habe ich mich dann ebenfalls beruflich in die Richtung orientiert. 2003 habe ich mein Unternehmen in Moskau gegründet, quasi als Start-up. Wir haben mit drei Leuten angefangen, heute haben wir Büros in acht Ländern.

Der Eiserne Vorhang ist gefallen. Aber eine gewisse Trennung gibt es ja noch immer.
Hier muss man auf jeden Fall anschauen, auf welcher Ebene. Ja, auf politischer Ebene gibt es sehr große Spannungen. Insbesondere ist es in den Ländern schwierig, deren Verhältnis zu Russland historisch belastet ist, also für Polen und die Baltischen Staaten. Hier sind auch wirtschaftliche Fragen sehr politisiert und können schwer verhandelt werden. 

Aber auf Ebene der Menschen, die sich treffen, empfinde ich die russische Kultur und die europäische als sehr gut zusammenpassend. Meine russischen Freunde bringen eine ausgesprochene Kreativität mit – und eine solche Arbeitsleistung, dass Berge bewegt werden. Kombiniert mit deutschen Stärken wie Präzision und akkuratem Arbeiten ergibt das ausgezeichnete Ergebnisse. Das zeigt ja auch der Erfolg der deutschen Wirtschaft in Russland.

Was spricht auf wirtschaftlicher Ebene für engere Zusammenarbeit zwischen EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU)?
Das größte wirtschaftliche Wachstum entsteht da, wo es Synergie-Effekte zwischen komplementären Wirtschaften gibt. Einfacher ausgedrückt: Die Stärken beider Seiten ergänzen sich. Europa besitzt viel Expertise in der Industrieproduktion und viel Ingenieurswissen gerade für die Digitalisierung der Industrie. Das Problem ist: Womit sollen wir die umsetzen? In der EAWU stehen die benötigten Ressourcen zur Verfügung – natürliche und menschliche, vor allem im IT-Bereich. Nur wenn diese zusammenfinden, wird so etwas wie Industrie 4.0 möglich. Der wirtschaftliche Effekt wäre immens. Studien des Ifo-Instituts (Institut für Wirtschaftsforschung Anm. d. Red.) zeigen, dass sich der EU-Außenhandel mit den Ländern der EAWU um 50 Prozent steigern ließe.

Welche unterschiedlichen Interessen haben die beiden Seiten?
Das ist eine sehr gute Frage. Die detaillierten Antworten müssen sich erst noch in den gerade beginnenden Gesprächen herauskristallisieren. Die EU hat natürlich ein starkes Interesse, mehr Exportmöglichkeiten zu gewinnen, da gerade wir Deutschen sehr am Export hängen. Das ist natürlich nicht per se im Interesse der eurasischen Länder. Sie wollen nicht den eigenen Markt öffnen und mit Konsumgütern überrollt werden. Für sie ist es wichtig, die lokale Wirtschaft zu modernisieren, also ausländische Investitionen und Technologien zu gewinnen.

Wo setzten Sie da mit Ihrer Arbeitsgruppe an?
Der Anfang ist, die Kommunikation zwischen beiden Seiten zu fördern, durchaus mit erstem Erfolg. Inzwischen zeigt sich die EU etwas offener, mit der EAWU in Kontakt zu treten, bevor der Friedensprozess rund um Minsk II in der Ukraine verwirklicht ist. Andererseits hat sich auch die EAWU bewegt und ist bereit, mit Expertendialogen zu beginnen und erst später politischen Kontakt zu suchen. 

Das kommt uns entgegen, weil wir bewusst auf technischer Ebene ansetzen. Einerseits werden große politische Agenden schnell totgeredet, bevor man überhaupt beginnt. Andererseits versuchen wir gerade solche Probleme anzugehen, die persönliche Begegnungen und wirtschaftlichen Austausch für kleine Unternehmen erschweren. Also restriktive Visabestimmungen, unterschiedliche technische Normungen und Zollverfahren. Das stellt eine viel größere Barriere dar als ein Zollsatz von fünf Prozent, was etwa der durchschnittliche Importzoll in die EAWU ist. 

Wann werden Sie sich zufriedengeben? Was ist Ihr Ziel?
Als Student bin ich vor 30 Jahren für Europa auf die Straße gegangen. Ich hab Banner hochgehalten für den Binnenmarkt, die einheitliche Währung. Heute ist die EU eines der größten Friedensprojekte der Welt, aber auch ökonomisch erfolgreich. Das zeigt, dass wirtschaftliche Annäherung Konflikte lösen kann, wo Politik in einer Sackgasse ist. Aber die europäische Bewegung ist heute genauso notwendig wie damals – siehe Brexit. So ist es hier auch. Ein gemeinsamer Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok ist keine unmögliche Utopie, aber auch kein nahes Ziel. Es ist eine Vision – und wir arbeiten schrittweise daran, sie umzusetzen.

Die Fragen stellte Lucian Bumeder.

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