Ruthenium aus dem Nirgendwo

Verschweigt Russland erneut einen Atomunfall, fragten deutsche Medien Ende November. Im Westeuropa meint man, die Verantwortlichen für die kurzzeitig erhöhte Ruthenium-Konzentration in Europa gefunden zu haben: und zwar im Ural. In Russland gibt es auch andere Theorien.

Majak

Foto aus einer Ausstellung über die kerntechnische Anlage „Majak“ im südlichen Ural /Quelle: Ecodefense/Heinrich-Böll-Stiftung

Eine kleine Menge Ruthenium gibt derzeit große Rätsel auf. Zehn Fragen und Antworten:

Was ist passiert?

Ende September und Anfang Oktober wurden in Europa leicht erhöhte Radioaktivitätswerte in der Luft gemessen, unter anderem in Deutschland, Österreich, Italien und Frankreich. Konkret handelte es sich um Ruthenium-106. Laut dem deutschen Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) habe „keinerlei Gesundheitsgefährdung“ bestanden. Die Konzentration lag zwischen wenigen Mikrobecquerel und wenigen Millibecquerel, so die Behörden in Deutschland.

Warum dann die Aufregung?

Ruthenium-106 kommt nicht in der Natur vor. Deshalb muss die erhöhte Konzentration ihre Ursache in irgendeinem Betrieb haben, der mit radioaktivem Material arbeitet. Experten in Deutschland und Frankreich suchten nach der Herkunft. Einen Unfall in einem Kernkraftwerk schlossen sie aus. Denn dabei wären auch andere radioaktive Stoffe freigesetzt worden. Ruthenium-106 wird unter anderem in der Medizin verwendet, um Tumore am Auge zu bestrahlen. Außerdem kann es auch eingesetzt werden, um Satelliten mit Strom zu versorgen. Wo nukleare Brennelemente wiederaufbereitet werden, kann laut BfS ebenfalls Ruthenium-106 vorkommen.

Was hat das mit Russland zu tun?

Deutsche und französische Behörden werteten Wetterdaten aus. Daraus schlossen sie, dass das Ruthenium-106 „mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einem Ursprungsort im südlichen Ural“ stammt, so das BfS. Nun lag für viele die Vermutung nahe, dass die Aufbereitungsan-lage Majak zwischen Jekaterinburg und Tscheljabinsk etwas damit zu tun hat. Ein britischer Physiker verglich Satellitenbilder der Anlage von August und Oktober. Daraus folgerte er, dass sich die Anlage verändert habe.

Wofür steht Majak?

Majak (deutsch: Leuchtturm) war die erste kerntechnische Anlage, mit der die Sowjetunion spaltbares Material für Kernwaffen indus-triell produzierte. Heute werden dort Kernbrennstoffe wiederaufbereitet. Bekannt ist die Anlage im Westen vor allem wegen eines Unfalls Ende September 1957, also fast auf den Tag genau 60 Jahre vor dem aktuellen Ruthenium-Austritt. Dieser Atomunfall gilt nach Tschernobyl und Fukushima als drittschwerster der Geschichte.

Damals wurden große Mengen radioaktiver Substanzen freigesetzt. Sie blieben überwiegend auf dem Gelände des Betriebs oder in der Umgebung. Der Wind trug das Material bis zu 400 Kilometer nach Nordosten, aber nicht nach Europa. Deswegen gelang es den sowjetischen Behörden auch, den Unfall in der dünn besiedelten Gegend fast zwei Jahrzehnte geheim zu halten. Außerdem hat es in der Anlage eine Reihe weiterer Unfälle gegeben.

Wie reagierten die Behörden nun?

Die Föderale Agentur für Atomenergie Rosatom erklärte Anfang Oktober die westlichen Theorien über die Herkunft des Rutheniums für haltlos. Es habe in Russland einschließlich Süd-Ural keine erhöhte Konzentration gegeben, meldete sie. Dabei berief sie sich auf den Russischen Wetterdienst. Russische Nuklearbetriebe kämen daher nicht als Quelle in Betracht, so Rosatom. Das bekräftigte Mitte November auch Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow. Ihm zufolge habe keine russische Behörde Hinweise auf einen Austritt im Ural geliefert.

Unterdessen hat der Russische Wetterdienst aber gemeldet, dass an vier Messstationen im Süd-Ural, im Nord-Kaukasus und am Don Ende September doch erhöhte Ruthenium-106-Werte registriert wurden. Um Tscheljabinsk, also unweit der Anlage Majak, war die Konzentration tausendmal so hoch wie bei der Messung im Vormonat. Die Werte lagen allerdings noch immer weit unter dem zulässigen Grenzwert, so Rosatom und auch das BfS.

Ein Beweis, dass das Ruthenium aus dem Ural kommt, ist das aus Sicht russischer Behörden nicht. Stattdessen verweisen sie darauf, dass in Ländern wie Polen, Italien und Rumänien ähnlich hohe Werte gemessen wurden. Außerdem ließen sie inzwischen die Anlage Majak untersuchen. Mit dem Ergebnis, dass es dort kein Ruthenium-Leck gegeben habe.

Ist der Fall jetzt abgeschlossen?

Ende November teilte Rosatom mit, Atomwissenschaftler würden eine unabhängige Kommission bilden. Diese soll herausfinden, woher die „in Europa festgestellten radioaktiven Stoffe“ stammen. Forscher der Russischen Akademie der Wissenschaften sollen die Kommission koordinieren. Zudem versprach Rosatom, die Öffentlichkeit über die Ergebnisse zu informieren. Für das BfS ist das Thema ebenfalls noch nicht erledigt, wie ein Sprecher gegenüber der MDZ betont. „Weiterhin werden alle neuen Erkenntnisse und Messdaten, die dazu relevant sein könnten, ausgewertet und die bisherigen Erkenntnisse des BfS immer wieder auf Plausibilität überprüft.“

Was ist mit dem Vorwurf der Vertuschung?

Russland hat das nach der Katastrophe von Tschernobyl beschlossene internationale „Übereinkommen über die frühzeitige Benachrichtigung bei nuklearen Unfällen“ unterzeichnet. Daher ist es verpflichtet, bei einem Unfall mit möglichen grenzüberschreitenden Auswirkungen unverzüglich die anderen Staaten zu informieren. „Vertuscht“, wie es in manchen deutschen Medien hieß, können die russischen Behörden den Austritt vom September nur haben, wenn sie davon wussten. Doch das ist nach ihren eigenen Aussagen nicht der Fall.

Woher könnte das Ruthenium sonst stammen?

In Russland haben sich in den vergangenen Wochen viele Experten zu Wort gemeldet. Das Ruthenium könne beim Unfall eines Satelliten ausgetreten sein, hieß es. Auch falsch gelagerte medizinische Abfälle werden als mögliche Ursache genannt. Andere halten an Majak fest. Das BfS sagt dazu übrigens: „Ob die Freisetzung tatsächlich aus dieser Anlage erfolgt ist, lässt sich anhand der derzeit vorliegenden Daten nicht entscheiden.“

Welche kerntechnischen Anlagen gibt es in Russland noch?

Einen Überblick über alle kerntechnischen Anlagen in Russland und anderen Ländern hat die World Nuclear Association. Demnach gibt es in Russland 35 Reaktoren in Kernkraftwerken. Zum Vergleich: In den USA sind es 99, in Frankreich 58, in Japan 42 und in China 37. Radioaktives Material findet sich zudem in mehr als 50 Forschungsreaktoren, die meisten davon werden vom Kurtschatow-Institut betrieben.

Hinzu kommen Aufarbeitungs- und Anreicherungsanlagen bei Moskau, Tomsk, Irkutsk, Tscheljabinsk (Majak), Krasnojarsk und im Gebiet Swerdlowsk sowie übers Land verteilte Endlager, von denen sich das größte in Sergijew Possad befindet. Im Zusammenhang mit den erhöhten  Ruthenium-Werten wurde aber keine dieser Anlagen als mögliche Ursache genannt.

Welche Folgen hat der Fall?

Die Werte haben sich schnell wieder normalisiert. Aber nach dem Hin und Her um die Messergebnisse sind viele dennoch verunsichert. Im Westen ist man sich sicher, dass man den russischen Behörden nicht trauen kann. Die dagegen empören sich, dass die Europäer sofort mit dem Finger auf sie zeigen.

Corinna Anton

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