Menschen, die ich gewohntermaßen achte, fragen: Was denke ich über Russland?
Ich tue mich schwer damit, was ich über mein Land denke, genauer über das russische Volk, das Bauerntum, seinen Großteil. Es würde mir leichter fallen, die Frage unbeantwortet zu lassen. Aber ich habe zu viel erlebt und weiß zu viel, um schweigen zu dürfen. Allerdings bitte ich zu verstehen, dass ich niemanden verurteile oder in Schutz nehme, ich berichte einfach, welche Formen die Vielzahl meiner Eindrücke angenommen hat. Eine Meinung ist kein Vorwurf. Und wenn sich meine Ansichten als falsch erweisen, so bekümmert mich das nicht.
Im Kern ist jedes Volk eine anarchische Kraft; das Volk will möglichst viel essen und möglichst wenig arbeiten, es will alle Rechte haben und keinerlei Pflichten. Die Atmosphäre der Rechtlosigkeit, in der das Volk von alters her lebte, hat es diese Rechtlosigkeit für die Norm halten lassen und Anarchie für einen selbstverständlichen Zustand. Das trifft ganz besonders auf die Mehrheit der russischen Bauernschaft zu, für die das Joch der Leibeigenschaft länger und harscher ausfiel als für andere europäische Völker.
Passiver, nicht aktiver Widerstand
Im russischen Bauern hat sich der Instinkt des Wanderhirten noch nicht überlebt. Für ihn sieht die Arbeit auf der Scholle wie ein Gottesfluch aus und er leidet an einem Trieb zum Weiterziehen. Was ihm fast völlig fehlt beziehungsweise nur sehr schwach entwickelt ist, das ist das kämpferische Bestreben, am auserwählten Ort Wurzeln zu schlagen und auf das dortige Umfeld im eigenen Interesse einzuwirken.
Wenn er sich doch dazu entschließt, steht ihm ein harter und unerquicklicher Kampf bevor. Wer in das Dorfleben etwas Eigenes, Neues einzubringen versucht, dem schlagen im Dorf Misstrauen und Feindseligkeit entgegen, er wird aus diesem Milieu verdrängt und verstoßen. Doch meist läuft es so, dass Pioniere von selbst gehen, wenn sie mit dem unüberwindbaren Konservatismus des Dorfes konfrontiert werden.
Der talentierte russische Historiker Kostomarow sagt: „Opposition gegenüber dem Staat war im Volk durchaus vorhanden, doch wegen der geografischen Weite manifestierte sie sich in Flucht, in der Entfernung von den Beschwernissen, die der Staat ihm auferlegte, und nicht im tatkräftigen Widerstand, im Kampf.“ Mit der Zeit, auf die sich das Gesagte bezieht, wuchs die Bevölkerung der russischen Ebene und die „Weite“ verengte sich. Doch die Psychologie blieb die gleiche und kommt in dem kuriosen Sprichwort zum Ausdruck: „Lauf vor der Arbeit nicht davon, aber komm ihr auch nicht zu nah.“
Die Kinder des Westens und das russische Volk
Der westliche Mensch sieht von frühester Kindheit an, kaum dass er auf eigenen Beinen stehen kann, um sich herum die monumentalen Resultate des Tuns seiner Vorfahren. Von den Kanälen Hollands bis zu den Tunneln der italienischen Riviera und den Weinbergen am Vesuv, von der großartigen Schaffenskraft Englands bis zu den mächtigen Fabriken Schlesiens: Ganz Europa ist dicht an dicht bedeckt von den grandiosen Zeugnissen des organisierten Willens der Menschen – eines Willens, der dem stolzen Ziel gewidmet ist, die spontanen Naturgewalten den vernünftigen Interessen des Menschen unterzuordnen.
Die Erde ist in der Hand des Menschen und der Mensch tatsächlich ihr Herrscher. Dieser Eindruck wird vom Kind des Westens aufgesaugt und erzieht in ihm ein Bewusstsein für den Wert des Menschen, Achtung vor seiner Arbeit und ein Gefühl der eigenen Bedeutung als Erbe der Wunder, des Schaffens und Schöpfertums der Ahnen.
Solche Gedanken und Gefühle können in der tiefsten Seele eines russischen Bauern gar nicht entstehen. Die grenzenlose Ebene, in der sich hölzerne, strohgedeckte Dörfer zusammenkauern, hat die giftige Eigenschaft, Leere bei den Menschen zu erzeugen, ihre Wünsche zu verflüchtigen. Wenn ein Bauer sich an den Rand seines Dorfes begibt und in das Nichts jenseits davon blickt, dann merkt er nach einiger Zeit, wie sich dieses Nichts auch seiner Seele bemächtigt. Nirgendwo sind nachhaltige Spuren von Arbeit und Schöpfertum zu sehen. Die Landhäuser der Gutsherren? Selten und von Feinden bewohnt. Die Städte? Fern und in kultureller Hinsicht den Dörfern kaum überlegen. Wohin man auch schaut – nur flaches Land und mittendrin der winzig kleine Mensch, ausgesetzt in dieser Einöde, um zu schuften.
„Genauso wie im 17. Jahrhundert“
Also wird der Mensch erfüllt von einem Gefühl der Apathie, das die Fähigkeit zum Denken, zur Erinnerung an Erlebtes und zur Übersetzung von Erfahrung in Ideen vernichtet. Ein Experte für russische Kulturgeschichte hat die Bauernschaft so charakterisiert: „viel Aberglauben und keinerlei Ideen“.
Der Großfürst Sergej Romanow hat mir erzählt, dass 1913, als das 300-jährige Bestehen der Romanow-Dynastie gefeiert wurde und Zar Nikolai in Kostroma weilte, Nikolai Michailowitsch, ein weiterer Großfürst, talentierter Autor einer ganzen Reihe solider historischer Werke, auf die Menge aus Tausenden von Bauern zeigte und dem Zaren sagte: „Die sind doch genauso, wie sie im 17. Jahrhundert waren, als sie Michail zum Zaren gewählt haben; ist das schlecht, was meinst du?“ Der Zar schwieg. Man sagt, er habe immer geschwiegen, wenn er auf ernste Fragen antworten sollte.
Gewalttätigkeit in subtiler Form
Ich glaube, dass dem russischen Volk so einzigartig, wie dem Engländer sein Sinn für Humor, ein spezieller Sinn für Gewalttätigkeit innewohnt, der kaltblütig ist und quasi die Grenzen der menschlichen Fähigkeit, Schmerzen auszuhalten, erforscht, die Kraft und Zähigkeit des Lebens auf die Probe stellt.
Die russische Gewalt hat etwas teuflisch Subtiles, etwas Raffiniertes, Erlesenes. Worte wie „Psychose“ oder „Sadismus“, die im Grunde sowieso nichts erklären, taugen dafür wohl kaum als Erklärung. Eine Folge des Alkoholismus? Ich bezweifle, dass das russische Volk vom Gift des Alkohols stärker vergiftet worden ist als andere Völker in Europa, wenngleich die schlechte Ernährung des russischen Bauern dafür gesorgt haben mag, dass der Alkohol stärker auf seine Psyche wirkt, als das in anderen Ländern der Fall ist, wo sich das Volk reichhaltiger und vielseitiger ernährt.
Möglich, dass die Entwicklung der bizarren Gewalt von den Heiligenlegenden beeinflusst wurde – einem beliebten Lesestoff der Schriftkundigen in abgelegenen Dörfern. Wären die Fälle von Gewalttätigkeit der Ausdruck einer perversen Psychologie Einzelner, man könnte sie unerwähnt lassen, denn dann handelte es sich um Stoff für den Psychiater und nicht den Chronisten des Alltags. Aber mir geht es einzig um den kollektiven Gefallen an der menschlichen Qual.
Gutmütig und versonnen?
Aber was ist nun eigentlich mit dem gutmütigen, versonnenen russischen Bauern, diesem rastlosen Suchenden nach Wahrheit und Gerechtigkeit, von dem die russische Literatur des 19. Jahrhunderts der Welt so überzeugend und schön berichtet hat? In jungen Jahren habe ich mich in Russlands Dörfern auf die Suche nach ihm gemacht – und ihn nicht gefunden. Angetroffen habe ich einen rauen und listigen Realisten, der sich, wenn es ihm zum Vorteil gereicht, als Einfaltspinsel zu gerieren versteht.
Von Natur aus ist er nicht dumm und weiß das nur zu gut. Er hat sich eine Menge trauriger Lieder, derber und grausamer Märchen ausgedacht, Tausende Sprichwörter erschaffen, in denen die Erfahrung seines schweren Lebens steckt. Er hört sie von Kindesbeinen an und ist überzeugt, dass sie viel ungeschminkte Wahrheit und Kummer enthalten, viele Lacher auf eigene Kosten und viel Groll gegen andere. Die Leute – besonders die Städter – stören sein Leben, er findet sie deplatziert auf dem Land, das mit seinem Schweiß und Blut getränkt ist und das er mystisch liebt. Er glaubt und fühlt unerschütterlich, dass er mit diesem Land fest verwachsen ist, dass es ihm gehört und man es ihm geraubt hat. Er wusste lange vor Lord Byron, dass „der Schweiß des Bauern das Landhaus des Gutsbesitzers wert ist“.
Weniger Mitleid, mehr Wahrheit
Die Literatur der Volksfreunde diente der politischen Agitation und idealisierte deshalb den Bauersmann. Doch schon Ende des 19. Jahrhunderts begann sich das Verhältnis der Literatur zum Dorf und zum Bauern stark zu wandeln, wurde weniger mitleidig und kam der Wahrheit näher. Den Anfang machte Anton Tschechow mit seinen Erzählungen „In der Schlucht“ und „Die Bauern“.
Auf die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts entfallen die Erzählungen Iwan Bunins, des besten unter den zeitgenössischen Künstlern des Worts: Sein „Nächtliches Gespräch“ und „Das Dorf“, von herausragend schöner Sprache und harscher Realität, etablierten den neuen, kritischen Umgang mit der russischen Bauernschaft.
„Alles, nur nicht Großmut“
Von Bunin sagt man in Russland, dass er als Adliger voreingenommen, wenn nicht feindselig gegenüber dem Bauern eingestellt sei. Das ist natürlich falsch – Bunin ist ein wunderbarer Künstler und sonst nichts. Doch in der russischen Literatur dieses Jahrhunderts gibt es durchaus beißendere und bitterere Zeugnisse der schaurigen dörflichen Düsternis, nämlich „Jugend“ von Iwan Wolin, einem talentierten Bauern aus dem Gouvernement Orjol, die Erzählungen des Moskauer Bauern Semjon Podjatschew und auch die Erzählungen des sibirischen Bauern Wsewolod Iwanow, eines jungen Schriftstellers von außerordentlicher Brillanz und Kraft.
Die genannten Personen wird man wohl kaum einer voreingenommenen und feindseligen Einstellung gegenüber dem Milieu verdächtigen können, dem sie selbst entstammen und zu dem sie die Verbindung bisher nicht gekappt haben. Besser als irgendjemand sonst kennen und verstehen sie das bäuerliche Leben – den Jammer und die derben Freuden des Dorfes, die Blindheit des Verstandes und die Rohheit der Sinne.
Alles, nur nicht Großmut zeichnet den russischen Bauern aus. Man könnte über ihn sagen, er sei nicht nachtragend: Das, was er selbst anrichtet, behält er nicht im Gedächtnis, wie er sich übrigens auch nicht daran erinnert, was andere ihm Gutes getan haben.
Übersetzung: Tino Künzel