Parlamentswahlen in Georgien: Visionen waren gestern

Die großen Schlachten aus den Zeiten von Michail Saakaschwili sind einstweilen geschlagen: Um Georgien, das mit und nach der „Rosenrevolution“ von 2003 für Schlagzeilen in der Weltpresse sorgte, ist es weitgehend ruhig geworden. Am 8. Oktober stehen nun Parlamentswahlen an.

 

Alles ist anders als noch vor vier Jahren. Bei den damaligen Parlamentswahlen standen sich mit Michail Saakaschwili und seinem Herausforderer, dem Milliardär und Mäzen Bidsina Iwanischwili, zwei Gallionsfiguren gegenüber, die das Land spalteten und Hunderttausende zu Massendemons­trationen auf die Straße brachten. Heute agieren beide nur aus dem Hintergrund.

Saakaschwili hat 2015 die ukrainische Staatsbürgerschaft angenommen und ist Gouverneur von Odessa. In seinem Geburtsland wird der Ex-Präsident und Gründer der 2012 als Regierungspartei abgelösten „Vereinten Nationalen Bewegung“ per Haftbefehl gesucht. Trotzdem greift er mit Videobotschaften auf einer seiner zahlreichen Facebook-Seiten immer wieder in den Wahlkampf ein.

Iwanischwili, vor vier Jahren zum Ministerpräsidenten gewählt, trat schon ein Jahr später zurück. Als alles überwachender Kopf zieht er aber auch weiter die Fäden und begleitet die Regierungsarbeit mit öffentlichen Äußerungen kritisch. Im Wahlkampf tritt der Unternehmer und Politiker nun wieder verstärkt in Erscheinung, bereist alle Regionen des Landes, um dort in Pressekonferenzen für seine Partei „Georgischer Traum – Demokratisches Georgien“ zu werben.

Saakaschwili

Fotogen: georgische Polizeistreife mit Kindern in Tiflis. / RIA Novosti

Woran es jedoch allenthalben mangelt, sind große Strategien oder gar Visionen. Die Georgier, so muss man konstatieren, sind nach Jahrzehnten innenpolitischer Konfrontationen politisch eher gleichgültig geworden oder müde. Das gilt für alle Akteure: die Regierung, die kaum vorhandene Opposition und vor allem für die Bevölkerung. Dabei erscheint die wirtschaftliche Lage im Lande alles andere als rosig. Von den vom „Georgischen Traum“ versprochenen Tausenden neuen Arbeitsplätzen wurde nur ein bescheidener Anteil realisiert. Die georgische Währung, der Lari, hat in den letzten beiden Jahren eine Abwertung von rund 30 Prozent hinnehmen müssen. Das Wirtschaftswachstum verlangsamt sich, die Exporte sinken, die Importe steigen und damit das Außenhandelsdefizit.

Noch nicht einmal das große politische Thema der jüngsten Vergangenheit, die West-Orientierung Geor­giens mit all ihren Auswirkungen auf das mehr als schwierige Verhältnis zum großen Nachbarn Russland, wird angesprochen. Die EU- und NATO-Euphorie hat sich deutlich gelegt, ohne dass aber etwaige Befürworter eines eher neutralen Kurses oder gar einer Wieder-Annäherung an Russland daraus Nutzen ziehen könnten. Die von Georgien eingeforderte Zusage einer NATO-Mitgliedschaft oder eines verbindlichen Membership Action Plans (MAP) ist seit dem Warschauer NATO-Gipfel vom Sommer erst einmal für lange Zeit vom Tisch. Mehr als eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Geor­gien und der NATO, ein so genanntes „Substanzielles Paket“, ist nicht herausgekommen. Die NATO zieht es erst einmal vor, ihr eigenes angespanntes Verhältnis zu Russland nicht zusätzlich mit dem Thema Georgien zu belasten.

Das Assoziierungsabkommen mit der EU ist zwar am 1. Juli in Kraft getreten, kurzfristige wirtschaftliche Erfolge können daraus aber kaum abgeleitet und für Wahlkampfzwecke eingesetzt werden. Denn jetzt läuft erst einmal der schmerzhafte Prozess, all die geforderten EU-Standards im Land einzuführen, an. Und mit der Visa-Liberalisierung für den Schengen-Raum wird man sich noch gedulden müssen. Die Mühlen der EU-internen Abstimmungsprozeduren nehmen auf einen Wahltermin in Georgien wenig Rücksicht.

So findet der Wahlkampf hauptsächlich mit Großplakaten der Kandidaten auf den Straßen statt und mit TV-Spots, die auch mehr der Stimmungsmache dienen als der Information über politische Programme. Den 45 zur Wahl zugelassenen Parteien fehlen außen- und innenpolitischen Symbol-Themen, mit denen sich die Wählerschaft mobilisieren ließen.

So geraten Personalien in den Vordergrund. Die „Vereinte Natio­nale Bewegung“ sorgte für die größte Überraschung, als sie Sandra Roelofs, die Frau Saakaschwilis, als Direktkandidatin in einem Wahlkreis im mingrelischen Sugdidi nominierte und sie einen Tag später auf Platz zwei der Landesliste setzte. Die gebürtige Holländerin wird somit auf jeden Fall dem neuen Parlament angehören und eine eigene politische Karriere beginnen. Nach vier Jahren Stillstand, verursacht vom „Georgischen Traum“, wolle sie keine schweigende Zuschauerin mehr sein, sagte Roelofs vor Parteianhängern.

Derweil haben die Georgier Gelegenheit, sich mit den neun Jahren Präsidentschaft Saakaschwilis näher zu beschäftigen: Anfang September ist die TV-Serie „Herocratia“ angelaufen. In ihr zeigt der Filmemacher Goga Khaindrava alle Abgründe der Saakaschwili-Zeit: prügelnde Gefängnis-Beamte, heimlich gefilmte Sexszenen zur Erpressung von Kritikern, einen schnüffelnden Präsidenten und so manche andere pikante Szene aus seinem Privatleben.

Pünktlich vor dem Wahltermin hat auch die georgische Generalstaatsanwaltschaft Material veröffentlicht, das Saakaschwili belastet.  Der hatte 2011 Massendemonstrationen brutal niederschlagen lassen. Es gab Tote und Verletzte. Jetzt präsentierte die Staatsanwaltschaft der Öffentlichkeit Videos zum Beweis, dass die Verantwortlichen für den Polizeieinsatz – hohe Regierungsbeamte – eindeutig rechtswidrige Befehle erteilt hatten.

In den Umfragen vor den Parlamentswahlen liegen der „Georgische Traum“ und die „Vereinte Nationale Bewegung“ unangefochten vorn, allerdings mit Quoten von unter 30  Prozent. Trotzdem verspricht sich Bidsina Iwanischwili deutlich mehr als 50 Prozent für seine Partei. Auszuschließen ist das nicht, denn rund die Hälfte der Mandate wird in Direkt-Wahlkreisen vergeben. Die Regierung rechnet fest damit, dass sie einen Großteil dieser Mandate erringt. Allerdings: Im ersten Wahlgang beträgt das Quorum für ein Direktmandat 50  Prozent der abgegebenen Stimmen. In den meisten Wahlkreisen dürfte es zu einem zweiten Urnengang kommen, der höchstens 25  Tage nach dem ersten stattfinden darf. Es kann also bis in den November hinein dauern, bis die endgültige Sitzverteilung im georgischen Parlament feststeht und die Frage beantwortet wird, ob sich die Regierungspartei einen Koalitionspartner suchen muss.

Rainer Kaufmann

 

Post aus dem Kaukasus

Rainer Kaufmann, 65, ist Herausgeber und Redakteur der „Kaukasischen Post“ in Tiflis. Die deutschsprachige Monatszeitung wird sowohl an ausgewählten Orten in der georgischen Hauptstadt ausgelegt als auch an Abonnenten verschickt. Das Blatt deckt ein breites Themenspektrum aus den südkaukasischen Ländern – mit Schwerpunkt Georgien – ab. Der Journalist und Buchautor Kaufmann stammt aus Baden-Württemberg, in Tiflis betreibt er auch ein Hotel sowie „Rainers Restaurant und Biergarten“. 2012 hat er die von der Einstellung bedrohte „Kaukasische Post“ mit einem von ihm gegründeten Verlag übernommen. Zuvor war die Zeitung bereits von 1906 bis 1914, von 1918 bis 1922 und seit 1994 erschienen.

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