Otfried Preußler: Eine Hommage von einer russischen Leserin

Er hat den Räuber Hotzenplotz erfunden und viele andere Kinderbuchfiguren. Am 20. Oktober würde der deutsche Schriftsteller Otfried Preußler (1923-2013) 100 Jahre alt. Seine Bücher wurden weltweit 50 Millionen Mal gedruckt und in 55 Sprachen übersetzt, auch ins Russische. Aber das ist nicht das Einzige, das Preußler mit Russland verband.

Von ihm sind fast 40 Bücher erschienen: Otfried Preußler (Foto: Francis Koenig)

Familie Preußler war kein einfaches Schicksal beschieden. Und eigentlich trug sie auch einen anderen Namen. Die Eltern des späteren Schriftstellers Otfried Preußler (1923-2013) waren Josef Syrowatka und Erna Tscherwenka und kamen aus einem tschechischsprachigen Umfeld. Die Großmutter von Josef Syrowatka hieß allerdings Agnes Praizler. In der Familie ging man davon aus, dass sie von deutschen Glasbläsern abstammte.

Ende des 19. Jahrhunderts lassen sich die Vorfahren von Otfried Preußler in Reichenberg nieder. Das heutige Liberec ist damals ganz überwiegend von Deutschen bewohnt. Bis zum Ersten Weltkrieg kann Reichenberg als blühende und wohlhabende Stadt gelten. Die ältere Generation der Syrowatkas spricht Tschechisch, während die Eltern von Otfried Preußler bereits deutschsprachige Lehrer sind. Sein Vater kämpft im Ersten Weltkrieg, wird verwundet und hinkt danach bis an sein Lebensende.

Otfried Preußler fällt das Tschechische am Gymnasium nicht leicht. Als seine geliebte Muttersprache betrachtet er Deutsch und beschließt schon im Kindesalter, Schriftsteller oder Maler zu werden. Die große Privatbibliothek der Familie, die ethnografischen Expeditionen mit seinem Vater und die Geschichten seiner Großmutter Dora lassen wohl auch gar keine andere Wahl zu. Als Jugendlicher schreibt und veröffentlicht Preußler seine ersten Gedichte und Erzählungen.

Fünf Jahre Kriegsgefangenschaft

Mit der Besetzung des Sudetenlandes durch Deutschland stellt sich Josef Syrowatka auf die Seite der Nationalsozialisten. Im Dezember 1941 ändert er den Familiennamen für sich, seine Frau und seine beiden Söhne in Preußler. Im darauffolgenden Jahr beendet Otfried Preußler die Schule mit Bestnoten und landet an der Front. Er bringt es zum Leutnant und Kompaniechef, gerät 1944 bei Chisinau in sowjetische Kriegsgefangenschaft und kommt ins NKWD-Lager 97 für deutsche Offiziere. Es befindet sich auf dem Gelände eines früheren Frauen­klosters in der Stadt Jelabuga (900 Kilometer östlich von Moskau – d. Red.).

Der erste Winter ist hart. Schon der lange Weg von Bessarabien an die Kama – eine Tortur. Die Gefangenen wollen nur noch überleben. Preußler erkrankt an Typhus und Malaria, nimmt nach verschiedenen Angaben zwischen 20 und 40 Kilo ab. 700 Mitinsassen sterben. Keiner will ins Lazarett gebracht werden, denn von dort kehrt kaum jemand zurück. Doch Preußler kann sich nicht dagegen wehren: Er verliert das Bewusstsein und wacht erst im Lazarett wieder auf. Einer jüdischen Ärztin, die ihm das Leben rettet, wird er ewig dankbar sein. Mitarbeiter des Staatlichen Historischen Architektur- und Kunst­museums haben ihren Namen herausgefunden: Wolkowa.

Neuanfang in Bayern

Preußler wird in ein Lager bei Kasan verlegt. Fünf Jahre verbringt er als Kriegsgefangener insgesamt in der Sowjetunion. Die Zeit wird er später „Meine Universitäten“ nennen. Nicht nur lernt er, russische Schimpfwörter zu gebrauchen, sondern auch die Psyche eines Gegenübers fast schon auf den ersten Blick zu beurteilen, er studiert menschliches Verhalten in Extremsituationen und im Alltag. Die Familie weiß nichts von seinem Verbleib. Doch 1949 ist er wieder zu Hause.

Die Sudetendeutschen sind inzwischen aus der Tschechoslowakei ausgewiesen. Auch die Preußlers müssen mit dem, was ihnen geblieben ist, in Bayern von vorn anfangen. Man lebt nun in Haidholzen bei Rosenheim. Otfried Preußler findet nicht nur seine Familie wieder, sondern auch seine Verlobte Annelies. Aus 57 Jahren Ehe werden drei Töchter hervorgehen.

Preußler tritt in die Fußstapfen der Eltern und studiert, um Lehrer zu werden. Nebenbei schreibt er weiter. Themen wie Macht, Menschlichkeit und Verantwortung unter den Bedingungen der Diktatur klingen in seinem Schaffen immer wieder durch. 1952 verfasst er ein Stück, das in einem Kriegsgefangenenlager spielt und in dem ein Arzt einen Häftling operiert, trotz Verbots durch die Lagerleitung.

Mit Kinderbüchern kommt der Erfolg

1954 nimmt Preußler den Schuldienst auf. Zwei Jahre später erscheint sein Kinderbuch „Der kleine Wassermann“, das zu einem großen Erfolg wird. Es folgen „Die kleine Hexe“ und „Der Räuber Hotzenplotz“. Trotzdem unterrichtet der Schriftsteller noch bis 1970 weiter. Preußler als Pädagoge wäre ein Thema für sich. Zumal 22 Schulen in Deutschland heute seinen Namen tragen.

Doch in der Sowjetunion kennt den Schriftsteller bis in die 1970er Jahre hinein so gut wie niemand. Das ändert sich mit einem denkwürdigen Treffen in München 1972. In der dortigen Internationalen Jugendbibliothek kommt es zur Begegnung Preußlers mit einer 14-köpfigen sowjetischen Delega­tion, der auch der Kinderbuch­autor Juri Korinez angehört. Die Bibliothekarin Nadeschda Kapitonowa aus der Uralregion erinnert sich später an den Auftritt Preußlers, der auf Russisch von den Sowjetmenschen redete, die ihm seinerzeit geholfen hatten, lebend aus der Kriegsgefangenschaft heimzukehren. Im Gedächtnis blieb ihr auch, wie leicht Preußler und Korinez eine gemeinsame Sprache fanden.

Sein russischer Übersetzer

Die Familie von Juri Korinez hatte eine gewisse Zeit in Berlin gelebt, danach eine Wohnung in Moskau bezogen, im sogenannten Haus am Ufer, wo Minister einquartiert wurden. Zu Hause spricht Juri Russisch und Deutsch, besucht die deutsche Schule. Sein Vater, leitender Aufsichtsbeamter einer sowjetischen Vereinigung, wird der Spionage beschuldigt und 1938 erschossen. 1941 soll Juri Korinez bei Smolensk Panzergräben anlegen. Doch dafür ist es schon zu spät. Die Schulabgänger eilen nach Moskau zurück. Dort erlebt Juri gerade noch mit, wie seine Mutter Emma Nagel, eine deutschstämmige Übersetzerin, von Tschekisten abgeführt wird. Einen Monat später stirbt sie im Gefängnis.

Juri selbst wird festgenommen und kommt für die nächsten elf Jahre nach Kasachstan. Er arbeitet als Fuhrmann, Traktorfahrer, fängt zu zeichnen an, verziert Fußmatten aus Sackleinen mit Schwänen und verkauft sie auf dem Basar. Er schließt eine Kunstschule und -berufsschule ab, doch der Hang zum Schreiben gewinnt letztlich die Oberhand und führt ihn aufs Literaturinstitut.

1958 wird Korinez in den sowjetischen Schriftstellerverband aufgenommen. Und er ist dann auch der erste Übersetzer von Otfried Preußler ins Russische. Was dieser sehr zu schätzen weiß. Er betrachtet Korinez als seinen Freund und Mitautor, dem er vollkommen vertraute.

Populär auch in der Sowjetunion

Die Kinder in der Sowjet­union schließen Preußlers Märchen sofort ins Herz. Ich bin eine dieser Leserinnen. „Der kleine Wassermann“, mein erstes selbstständig gelesenes Buch, prägt sich mir mit seiner ungewöhnlichen Handlung für alle Zeiten ein und gehört bis heute zu meiner Bibliothek.

Doch neben den allseits bekannten Märchen arbeitet Preußler auch an anderen Dingen. Sein Verhältnis zum Faschismus bringt er im Roman „Krabat“ zum Ausdruck. Der Preis dafür, sich mit dunklen Mächten einzulassen, ist das Leben. Nicht alle hatten die Kraft und den Mut, der Versuchung zu widerstehen, doch unmöglich ist das nicht. Ob sich Preußler anders positioniert hätte, wäre sein Leben ohne eigene tragische Erfahrungen in dieser Hinsicht verlaufen, wissen wir nicht. Aber aus Büchern und Interviews lässt sich einiges schließen. Der Schriftsteller hat nach dem Krieg nie wieder eine Waffe in die Hand genommen, selbst zu irgendwelchen festlichen Anlässen. Mehr noch, er hat auch nie salbungsvolle Worte gesprochen, agitiert, appelliert. Und erst recht ist er nicht im Gleichschritt marschiert.

Geschichten sind wie das „tägliche Brot“

Außerdem hat Preußler seine Erinnerungen über den Krieg und die Kriegsgefangenschaft aufgeschrieben. Veröffentlicht werden sollten sie nach seinem Tod. Bisher haben seine Töchter sie unter Verschluss gehalten – zu schlimm ist das alles. Etwas in Erfahrung bringen lässt sich aus der Broschüre „Ein Dank an gute Freunde“ (1992) und dem Buch „Ich bin ein Geschichten­erzähler“ (2010). Darin denkt der Schriftsteller an junge Kameraden zurück, die auf dem Schlachtfeld oder in der Gefangenschaft gestorben sind. Auch auf eine Reise nach Susdal und Wladimir im Jahr 1989 kommt er zu sprechen. Dort war er nicht einfach nur aus touristischen Gründen gewesen. Preußler schrieb einen Beitrag über die Kriegsgefangenen von Susdal, was den Anstoß dafür gab, dort 1993 einen Gedenkstein aufzustellen – den ersten überhaupt in Russland für Kriegsgefangene.

Auch seine „verlorenen Jahre“ thematisiert Preußler, wenn er zurückblickt. In „Ich bin ein Geschichtenerzähler“ schreibt er über die Jahre im Lager: „Natürlich waren das verlorene Jahre. Es wäre die Unwahrheit, anders zu antworten.“ Aber gerade im Lager sei ihm bewusst geworden, wie sehr Menschen Geschichten brauchen. „So wie das tägliche Brot. Brot für die Seele, wie Maxim Gorki einmal gesagt hat.“

Sammelband und Holzbank zum Jubiläum

Das Museum in Jelabuga hat zum 100. Geburtstag des Schriftstellers einen Sammelband mit Erinnerungen vorbereitet, der Fragmente aus „Ich bin ein Geschichtenerzähler“ enthält. Übersetzt wurden sie von Museumsmitarbeiterin Oksana Jessipowa. Sie hat mit Preußlers Tochter Susanne Preußler-Bitsch auch die Herausgabe des Märchens „Die Abenteuer des starken Wanja“ vereinbart. Es ist noch nie auf Russisch erschienen, obwohl es unmittelbare Bezüge zu Russland hat.

Die Illustrationen zur russischen Übersetzung stammen von der Kunstmalerin Olga Minejewa, die aktives Mitglied im „Stammtischklub“ ist, einem deutschen Sprachklub in Jelabuga. Zu dessen Mitgliedern gehört auch der Deutsche Cornelius Wendel. Er hat mit dem Einverständnis von Preußlers Familie zum Jubiläum eine hölzerne „Märchenbank“ gestiftet, die unlängst in der Nähe seines Hauses am Stadtrand aufgestellt wurde, versehen mit einer Gedenkplakette und dem von Preußler geprägten Spruch: „Bücher sind Freunde, die immer für uns Zeit haben“.

Der sowjetischen Zeitschrift „Kinderliteratur“ hat Otfried Preußler 1980 in einem Interview gesagt: „Die Besonderheiten meiner Biografie lassen mich eine starke Verbundenheit zu Russland fühlen. Ich liebe Ihr Land und seine Menschen.“ Die Leser in Russland könnten ihm dasselbe antworten.

Olga Kolpakowa ist eine russische Kinderbuchautorin („Der Wermutstannenbaum“).

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