Die russische Vize-Ministerpräsidentin für Bildung, Gesundheit und Sozialpolitik Tatjana Golikowa will die Regeln für Abtreibungen neu definieren. Die Politikerin hat dem Gesundheitsministerium den Auftrag erteilt, die Frage über die „Zweckmäßigkeit des Abtreibungsverbots“ für Jugendliche von 15 bis 18 Jahren ohne Zustimmung ihrer Eltern zu überarbeiten. Obwohl es nur eine Aufgabe ist, mit der sich die Experten des Ministeriums bis zum 1. Februar 2023 beschäftigen müssen, hat diese Ankündigung wie erwartet Kontroversen ausgelöst.
„Pro Life“ vs. „Pro Choice“
Die zahlreichen Befürworter des Verbots für Schwangerschaftsabbrüche begründen ihre Position nicht anders, als es die „Prolifer“ in Westeuropa tun. Der religiöse Aspekt ist in Russland derzeit sichtbar und wichtig. Die orthodoxe Kirche setzt sich konsequent gegen Abtreibungen ein, und ihre Stimme hören die Staatsbeamten sehr wohl. Dabei passt es perfekt in die erklärte Politik der Rückkehr zu den „traditionellen Werten“. Gegner der Abtreibung weisen auch darauf hin, dass die gesetzliche Regelung in diesem Bereich ohnehin sündhaft sanft ist.
Die „Prochoicer“ akzeptieren selbstverständlich keine Verbote. Sie seien eine direkte Frauenrechtsverletzung (my body, my choice). Nicht selten gehören die Gegner der Abtreibungen auch zu den Anhängern der Childfree-Idee. Kein Wunder, dass die Vertreter der beiden Parteien ganz unterschiedliche Sprachen sprechen. In der Gesellschaft ist dabei der Standpunkt populär, den die Journalistin und Ex-Duma-Abgeordnete Oksana Puschkina formuliert hat: „Ich befürworte Abtreibungen nicht, aber ich bin prinzipiell gegen ihr Verbot“.
Liberaler als im Westen
In Russland sind derzeit Schwangerschaftsabbrüche nach dem Wunsch der Frau bis zur zwölften Schwangerschaftswoche gesetzlich erlaubt. Wenn es um eine Vergewaltigung geht, dann ist die Abtreibung bis zur 22. Woche möglich. Abgesehen von der Dauer der Schwangerschaft darf eine Frau operiert werden, falls es dazu medizinische Indikationen gibt. Außerdem steht diese Prozedur auf der Liste der medizinischen Leistungen, für die Patienten mit der einfachen staatlichen Krankenversicherung (also alle russischen
Staatsbürger) nichts extra bezahlen müssen. Wenn sich also ein fünfzehnjähriges Mädchen für den Abbruch entscheidet, braucht es seine Eltern nicht in Kenntnis zu setzen. Die Gesetzgebung in diesem Bereich ist bis dahin ja liberal.
Das sind auf keinen Fall moderne Trends. Sowjetrussland war der erste Staat in der Welt, der bereits 1920 die Abtreibungen gesetzlich legitimierte. Später wurden Schwangerschaftsabbrüche in der Sowjetunion mal kriminalisiert und dann wieder legalisiert, aber die Zahl der Abtreibungen – der legalen und der kriminellen – war immer extrem hoch. So wurden 1990 in Russland mehr als vier Millionen Abtreibungen vorgenommen. Jahr für Jahr wird die Situation besser, aber auch heute registriert Russland Rekorde: 400.000 Schwangerschaftsabbrüche im Jahr 2021.
„Auf eigenen Beinen stehen“
Die Abtreibungen bei Jugendlichen im Alter von 15 bis 19 Jahren machen 7–8 Prozent aller Schwangerschaftsunterbrechungen aus. Tatjana Golikowa will die Statistik gerade in dieser Kategorie verbessern. Der Plan ist klar: Der Staat verbietet nichts, sondern gibt dieses Recht den Eltern des schwangeren Mädchens. Die Entscheidung trifft nicht die werdende Mutter, sondern die potentielle Oma.
Abgesehen von der moralischen Seite der Angelegenheit stellt sich gleich eine ganz praktische Frage. Wird es so funktionieren, wie es der Staat gerne hätte? Sehr oft sind es die Eltern, die auf Abtreibung bestehen. „Du bist selber noch ein Kind, du musst erst lernen, auf eigenen Beinen zu stehen.“ Leider kommt es manchmal zu spät zu so einem Gespräch. Und in den russischen Schulen gibt es ein Fach wie Sexualaufklärung nicht. Das widerspräche den traditionellen Werten.
Igor Beresin