Die Gefühlslage einer Gesellschaft und ihre Haltung zu aktuellen Problemen zu erfassen, ist keine einfache Aufgabe, und in Russland ist sie vielleicht sogar noch ein wenig komplizierter als anderswo.
Ein großes Problem vieler Umfragen sind die sogenannten „Bestätigungsfehler“. Darauf verweist Julius von Freytag-Loringhoven, Leiter des Moskauer Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung. Um Fehler zu minimieren, arbeitet die Umfrage mit sogenannten „Vignetten“, Beispielgeschichten, die abstrakte Fragen konkretisieren sollen.
Ziel ist es, dadurch genauere Antworten zu erhalten. Auch wenn sich die Vignetten als Methode laut von Freytag-Loringhoven bewährt haben, entsteht dennoch ein unklares, in Teilen widersprüchliches Bild der russischen Gesellschaft.
Was bedeutet Freiheit?
Dies zeigt sich bereits bei der, zugegeben schwierigen, Definition des Begriffs. So assoziieren einige Befragte Freiheit vor allem mit Meinungsfreiheit, Demokratie und der fehlenden Angst vor dem Leben in Russland. Auf der anderen Seite gaben Befragte an, dass Freiheit für sie ein Leben im Rahmen der Verfassung Russlands bedeute und demnach in Russland Freiheit herrsche.
Das Problem der Definition ist der Stiftung bewusst. Auch, dass Freiheit in gewissen Punkten in Russland anders als in Deutschland wahrgenommen wird. Für von Freytag-Loringhoven steht der Aspekt der Selbstbestimmung im Vordergrund. „Egal in welcher Gesellschaft man auf diesem Planeten aufwächst, kennt man intuitiv den Unterschied zwischen frei und fremdbestimmt“, so der Leiter der Friedrich-Naumann-Stiftung.
Selbstbestimmung heißt auch Selbstverantwortung. Knapp 68 Prozent der Befragten meinen, dass ihr Leben von ihnen selbst abhängt und nicht vom Staat. Der Staat scheint für viele Russen demnach fern zu sein. So gibt eine Mehrheit von 64 Prozent an, dass der Staat sich nicht in ihr Leben einmische. „Sie leben gefühlt unabhängig vom Staat“, sagt von Freytag-Loringhoven.
Allerdings gibt es auch gewisse Situationen, in denen Russen staatliche Obhut für notwendig halten, wie bei der Versorgung von älteren Menschen. Auch als Anlaufstelle bei Problemen genießt der Staat bei seinen Bürgern weiterhin großes Vertrauen.
Fast die Hälfte der Befragten ist überzeugt, dass Gerichte und der Präsident am wirkungsvollsten die Interessen und Rechte der Menschen schützen.In Menschenrechtsorganisationen vertrauen lediglich elf Prozent der Russen und Demonstrationen sehen nur 2,4 Prozent als geeignetes Mittel zur Durchsetzung ihrer Rechte.
Ein komplexes Verhältnis zum Staat
Das komplexe Verhältnis der Russen zu ihrem Staat wird auch im Bereich Presse- und Meinungsfreiheit deutlich. Jeder Vierte ist überzeugt, dass Medien absolut frei sein sollen. 40 Prozent der Befragten sprechen sich dafür aus, dass in bestimmten Situationen, wenn es beispielsweise der Sicherheit dient, der Staat durchaus die Medien kontrollieren darf.
Knapp jeder Dritte plädierte gar dafür, die Presse in Russland unter staatliche Aufsicht zu stellen.
In einem Fallbeispiel zeigt sich, wie sehr man hierzulande den Staat als einzig legitime Kontrollinstanz betrachtet. Der Chef einer Firma dürfe beispielsweise seinen Mitarbeitern kritische politische Kommentare in sozialen Netzwerken nicht verbieten, äußert sich die Mehrheit der Russen.
Momentan leidet die russische Wirtschaft noch unter den Folgen der Sanktionen. Diese Situation lässt die Russen zu einem gewissen Isolationismus tendieren. Nach Meinung von fast zwei Drittel aller Befragten sollen die Zölle auf ausländische Waren erhöht werden.
So glaubt die Hälfte der Russen, dass sollte der Zugang zum russischen Markt für ausländische Unternehmen beschränkt werden. Lediglich jeder Dritte glaubt, dass ausländische Unternehmen der einheimischen Wirtschaft auf die Sprünge helfen könnten.
Beim Thema Gesetzestreue kann man eine eindeutige Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung erkennen. So ist etwas mehr als die Hälfte der Befragten davon überzeugt, dass die Menschen in Russland vorwiegend nach informellen Regeln leben. Fast zwei Drittel (71 Prozent) sind indes davon überzeugt, dass sie selbst gesetzestreue Bürger sind. Eine Mehrheit spricht sich denn auch gegen kleine Bestechungsgelder aus, auch wenn diese das Vorankommen im Alltag erleichtern würden.
Ein ähnlicher Unterschied lässt sich bei der wichtigen Frage beobachten, wie Russen eigentlich zur Demokratie stehen. Lediglich jeder Zweite glaubt, dass es seinen Mitbürgern wichtig ist, dass in ihrem Land Demokratie herrscht. Demgegenüber geben 64 Prozent der Befragten an, dass Demokratie in Russland für sie persönlich wichtig sei.
Unverändert ist die Einstellung der Russen zur Homosexualität. Zwei Drittel wollen ihre Kinder nicht von einem schwulen Lehrer unterrichten lassen, selbst wenn dieser sehr beliebt ist.
Eine Einordnung
Wie lassen sich die Antworten der Russen interpretieren? Der Soziologe Dmitrij Rogosin, der die Umfrage im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung durchführte, findet, dass die Zustimmung zu Freiheit und Demokratie hoch seien, gerade im Vergleich zu einer ähnlichen Umfrage, die im Jahr 2016 durchgeführt wurde.
Julius von Freytag-Loringhoven weist jedoch darauf hin, dass die positiven Antworten nicht unbedingt ein Ausdruck eines gesteigerten Freiheitsgefühls der Russen seien. „Wer die russische Innenpolitik der letzten zwölf Monate verfolgt hat, weiß, dass der Druck auf Opposition und Andersdenkende gestiegen ist“.
Daher könne man nicht wissen, ob mehr Befragte aus Angst positiver antworten, als sie die Wirklichkeit eigentlich wahrnehmen, so von Freytag-Loringhoven. Eine weitere Problematik von Umfragen in Russland sieht der Leiter der Moskauer Friedrich-Naumann-Stiftung darin, dass sehr viele Menschen hierzulande (ungefähr 40 Prozent) Angst haben Fremden gegenüber ihre Meinung zu äußern. Russland weiß also auch weiterhin zu überraschen.
Daniel Säwert