Was die Stunde geschlagen hat, wird den Russen für gewöhnlich aus dem Moskauer Kreml verkündet. Der Kreml gibt aber auch im eher buchstäblichen Sinne die Zeit vor. Die Turmuhr am Roten Platz gehört zum russischen Silvester wie Schampanskoje und „Ironie des Schicksals“. Wenn um Mitternacht ihr Glockenschlag im Fernsehen erklingt, wird in Millionen Haushalten der Anbruch des neuen Jahres gefeiert.
Ein Schotte erfand die Kreml-Uhr
Für das berühmte Uhrwerk am Erlöserturm hat man in Russland sogar ein eigenes Wort: Kuranten. Diese Zeit-Maschine ist bis heute mechanischer Natur. Wie früh oder spät es ist, kann man in ihrem Fall sogar hören. Jede Viertel- und volle Stunde wird akustisch angezeigt. Alle drei Stunden spielen die 23 Glocken entweder die russische Nationalhymne oder das patriotische „Slawssja“.
Seit der Errichtung des Erlöserturms 1491 haben sich die jeweiligen Kompositionen immer mal wieder geändert. Wie auch die heutige Uhr mit ihren goldenen Zeigern und römischen Ziffern auf schwarzem Untergrund längst nicht die erste ihrer Art ist. Einige Vorgänger wurden von Bränden zerstört. So erging es unter anderem gleich zwei aufeinanderfolgenden Konstruktionen des Schotten Christopher Galloway, die dennoch Maßstäbe setzten. Der Ingenieur war einer Einladung des ersten Romanow-Zaren Michail I. nach Russland gefolgt. Dass er von 1621 bis 1645, als der Zar starb, in dessen Diensten stand, ist fast das Einzige, was man über ihn weiß.
„O du lieber Augustin“
Peter der Große ließ einen neuen Uhrmechanismus aus Holland herbeischaffen. Der wiederum wurde wegen Abnutzung ein halbes Jahrhundert später unter der deutschen Zarin Katharina der Großen von einem deutschen Uhrmachermeister ausgewechselt. Fortan erklang aus luftiger Höhe das deutsche „O du lieber Augustin“. Es war das erste und einzige Mal, dass dem Glockenspiel eine ausländische Melodie entlockt wurde.
In ihrer heutigen Ausführung wurde die Uhr bereits 1851 installiert. Erst die Straßenkämpfe im Zuge der Oktoberrevolution von 1917 setzten sie wegen einiger Geschosseinschläge vorübergehend außer Gefecht. Doch knapp ein Jahr später waren die Schäden beseitigt. Das musikalische Repertoire bestand nun hauptsächlich aus der „Internationale“. 1938 verstummten die Kuranten in Folge von Verschleiß für fast sechs Jahrzehnte. Erst Ende der 1990er Jahre wurden ihnen wieder Töne beigebracht.
Lomonossow-Uni hat die größte Uhr
Die Kremluhr mag besonders geschichts- und symbolträchtig sein, aber es geht durchaus noch größer. Ihre 6,12 Meter Durchmesser sind im Vergleich zu den neun Metern der Uhr an der Lomonossow-Universität auf den Sperlingsbergen fast schon bescheiden. Allerdings handelt es sich bei dem Uni-Exemplar auch um eine der größten Turmuhren Europas. Der Minutenzeiger ist über vier Meter lang und wiegt 39 Kilo. 1953 zusammen mit dem gesamten Bau der Moskauer Staatsuniversität fertiggestellt, wird der Uhrriese auf Höhe des 25. Stockwerks bereits seit 1957 per Elektromotor gesteuert.
Im Gegensatz dazu ist im Uhrturm des Kiewer Bahnhofs alles beim Alten. Das mechanische Schweizer Uhrwerk von 1917 wird wie eh und je mit Hilfe eines 300-Kilo-Gewichts jeden vierten Tag aufgezogen und täglich auf seine Funktionsfähigkeit überprüft. Am meisten zu schaffen machen dem Veteranen nicht die Jahre, die er auf dem Buckel hat, sondern die Tauben, derer er sich nicht erwehren kann.
Sternzeichen-, Raketa- und Metro-Uhr
Ein ganz besonderes Stück Zeit-Geschichte hat auch der Kasaner Bahnhof zu bieten. Bei seinem Umbau in den Jahren 1911 bis 1926 stand der Uhrturm von San Marco in Venedig Pate für den entsprechenden Teil der Fassade. Dem russisch-sowjetischen Architekten Alexej Schtschussew, der später auch das Lenin-Mausoleum und das Hotel Moskwa vis-à-vis des Kremls entwarf, soll die Sternzeichen-Uhr mit zugehöriger Glocke am Herzen gelegen haben. 1923 in Betrieb genommen, stürzte die Uhr 1941 nach einem Bombenabwurf zu Boden und kam erst 30 Jahre später an ihren Platz zurück. In den 1990er Jahren wurde der Glockenschlag abgeschaltet: Rund um den Bahnhof ist es so laut, dass er in der Geräuschkulisse unterging.
Die wohl ungewöhnlichste Uhr von Moskau befindet sich seit 2015 im Atrium des Zentralen Kinderkaufhauses am Lubjanka-Platz. Ihr Äußeres wird dominiert von 21 Zahnrädern und einem 13 Meter langen Pendel. Ausgedacht haben sich den Hingucker der Franzose Jacques von Polier und der Schweizer Florian Schlumpf, angefertigt wurde dieses Original von Russlands ältester Uhrfabrik Raketa aus Peterhof.
Gänzlich unverspielt kommen derweil die Uhren daher, die in der Moskauer Metro täglich Millionen Fahrgäste vor Augen haben. Sie sollen vor allem schön informativ sein. In jeder Station über der Tunneleinfahrt angebracht, zeigen sie digital die genaue Zeit und die vergangenen Sekunden seit der Abfahrt des vorhergegangenen Zuges an.
Tino Künzel