Wir wünschen uns ein Russland, dass …

Mit einem tollen Feuerwerk über den Kremltürmen hat in Moskau das neue Jahr begonnen. Die MDZ-Redakteure – drei Deutsche und zwei Russinnen – machen sich an dieser Stelle Gedanken darüber, was es den Russen bringen soll. Im Kleinen wie im Großen.

Der Funke sprang zu Silvester im wahrsten Sinne des Wortes über: Unten auf dem Roten Platz rutschen auch diesmal wieder tausende Menschen ins neue Jahr. © Reuters/PIXSTREAM

Tino Künzel

Von der Gemeinschaft zur Gesellschaft

Ich wohne in einem Plattenbau aus dem Jahre 1967. Zwölf Stockwerke ist er hoch und steht am Ende einer Seitenstraße vom Kutusow-Prospekt. Das könnte eine 1A-Lage sein, kämen danach nicht noch ein Busdepot, eine Altmetallannahmestelle, eine Waschanlage und dergleichen mit Wohnbebauung nicht sonderlich verträgliches Gewerbe. Deshalb kann von himmlischer Ruhe genauso wenig die Rede sein wie anderswo in Moskau. Besonders laut wurde es jedoch immer im Sommer, wenn sich in unserer kleinen Straße eine Schlange aus Sprühlastwagen vor dem Hydranten rechts vorm Haus bildete. Tag und Nacht warteten sie bei laufendem Motor darauf, ihre Tanks auffüllen zu können, während sich die Fahrer quer durch die Reihen mit Musik und Unterhaltung die Zeit vertrieben. In warmen Nächten und bei offenem Fenster hörte sich das so an, als hockten sie bei mir im Schlafzimmer.

Im vergangenen Sommer blieb dieser Angriff aufs Nervenkostüm plötzlich aus. Und irgendwann las ich am Schwarzen Brett, das hätten wir, also die Hausbewohner, erreicht. Wie „wir“ das gemacht haben, weiß ich nicht. Als einer der wenigen Mieter unter all den Wohnungseigentümern geht vieles an mir vorbei. Zudem traut meine Vermieterin den Nachbarn (und selbstverständlich auch der Staatsmacht) nicht und hätte es am liebsten, wenn ich mit niemandem redete und am besten zu Hause bliebe. Was ich allerdings ganz erstaunlich fand, war, dass es überhaupt ein Wir gab. Das ist in russischen Wohnhäusern, wo die meisten Leute einander keines Blickes würdigen, geschweige denn sich grüßen, nicht so offensichtlich. Doch wo wir nun schon die Straßenreinigung vertrieben hatten, setzten wir gleich noch eins drauf und einigten uns – wiederum ohne mein Wissen – auf eine Einfahrtssperre vor unserem Haus. Unmittelbar vorm Eingang können seitdem keine Autos mehr parken, und auf der Bank daneben tratschen die Babuschkas nun erst recht in aller Ruhe.

Diese Selbstorganisation ist nur zu begrüßen. Lange Zeit habe ich davon nichts bemerkt, im Gegenteil. Zwar sind die Russen ja als kollektive Wesen bekannt, doch das gilt nicht pauschal, sondern nur im persönlichen Umfeld: Außerhalb des Familien-, Freundes- und Kollegenkreises bleibt in der Regel jeder für sich allein. Die Gemeinschaft funktioniert in Russland viel besser als die Gesellschaft. Was sich jenseits der eigenen Wohnung oder des eigenen Arbeitsplatzes abspielt, das liegt nämlich vielfach auch außerhalb des eigenen Horizonts. Das fängt bereits beim Treppenhaus an, das ein finsteres, schmutziges und stinkendes Loch sein kann, ganz anders als die Wohnungen darin, die oft eine große Gemütlichkeit ausstrahlen. Doch erfreulicherweise ändert sich diese Einstellung langsam.

Als ich vor fast 20 Jahren meine ersten Sprachkurse in Russland absolvierte, waren meine so liebenswürdigen Lehrerinnen jedes Mal wie ausgewechselt, sobald sie das Haus verließen. Dann gefroren ihre Mienen und sie schienen sich wie in Feindes- oder zumindest wie in Niemandsland zu fühlen. Den unpersönlichen öffentlichen Raum konnten die Menschen nicht zu sich selbst in Beziehung setzen. Dafür war sicher jemand anders zuständig, und darum sollten sich andere kümmern. Damals habe ich ständig den Satz gehört: „Ja-to tut pritschjom?“ Übersetzt heißt er: Was geht mich das an?

Doch das Bewusstsein hat sich zu wandeln begonnen. Die Menschen interessieren sich zunehmend für die Belange in ihrer Straße, in ihrer Stadt. Nun also auch in meinem Haus. Bitte mehr davon!

 

Ljubawa Winokurowa

Nicht gleich mit Verboten kommen

Es ist gar nicht so einfach, Wünsche für sein Land zu formulieren. Denn man gewöhnt sich an alles und weiß gar nicht, wie etwas besser, schlechter oder einfach nur anders sein kann. Deshalb will ich damit beginnen, was man sich heute nicht mehr zu wünschen braucht.

In Russland hat man gelernt, Zeit zu sparen und Nerven zu schonen. Noch vor fünf Jahren war es der reinste Alptraum, irgendeine Bescheinigung in einer Behörde zu besorgen. Man konnte Stunden in der Schlange verbringen, nur um dann im entsprechenden Büro zu erfahren, dass man noch dieses und jenes Dokument beibringen müsste und der Mitarbeiter einem nicht helfen könne.

Inzwischen sind in allen Städten sogenannte multifunktionale Zentren eingerichtet, wo man diesen Papierkram erledigen kann, ohne sich erniedrigen zu müssen. Dazu kommt der Einsatz von Internettechnologien. Sämtliche Bankgeschäfte kann ich heute von zu Hause aus abwickeln und Käufe online tätigen, ohne mich ins Getümmel von Geschäften zu stürzen.

Und jetzt zu den Dingen, die verbesserungswürdig sind, wiederum vom praktischen Standpunkt aus. Ganz oben auf meiner Liste: die Hypothekenkredite und der Wohnungsmarkt. Ich kenne eine junge Familie, der Mann Ingenieur, die Frau Ärztin. Sie haben mit einer Wohnung in Podmoskowje geliebäugelt und sich ausgerechnet, dass diese nach Abzahlung des Kredits wegen der hohen Zinsen im Preis einem Haus irgendwo am Roten Platz gleichkommt. Die Banken sollten solche Zinssätze verlangen, die sich eine normale russische Familie auch leisten kann.

Zum Schluss noch ein immaterieller Wunsch: Es wäre schön, wenn die Russen aufgeschlossener und toleranter gegenüber neuen Ideen und schöpferischen Ansätzen würden, einmal tief Luft holten und ihren Kopf einschalteten, anstatt sofort mit Verboten und Sanktionen zu reagieren.

 

Daniel Säwert

Auch den Alltag leben

Von der russischen Politik dürfte in den nächsten Jahren kaum etwas zu erwarten sein. Zu eingefahren scheint das System, zu utopisch die Hoffnung, dass sich wirklich etwas ändert.

Ändern können und werden sich hoffentlich die Menschen. Es würde mich freuen, wenn die Russen nicht mehr alles so verbissen sähen und allem mit Misstrauen begegneten. Konkret will ich sagen: Liebe Russen, werdet entspannter und fangt an zu leben!

Oft höre ich in Russland Urlaubsgeschichten, die voller Bewunderung darüber sind, wie Menschen in anderen Ländern einfach mal abschalten und den Moment genießen. Ohne Frage, wer einmal einen russischen Feiertag erlebt hat, der weiß, dass die Menschen hierzulande durchaus wissen, wie man das Leben auskostet. In Deutschland ist eine solche positive Wildheit kaum noch anzutreffen. Doch es scheint, als müsse dafür ein Schalter umgelegt werden. Genossen werden darf nur, wenn es ein roter Tag im Kalender ist. Am nächsten Morgen folgt sogleich wieder der graue Alltag. Und es scheint, dass in diesem sogar das Lächeln bis zum nächsten Fest aufgehoben wird.

Wie herrlich wäre es, wenn die Russen es schaffen würden, nur ein wenig von der Atmosphäre aus Urlaub und Feiern in den Alltag zu retten. Sicher ist der russische Alltag nicht einfach. Aber auch nicht so schwer, dass es unmöglich ist, ihn ein wenig aufzulockern. Viel braucht es dafür nicht.

 

Olga Silantjewa

Wider die Selbstbedienung

Staatsgelder sollten in Russland mit Verstand und ihrem Zweck entsprechend ausgegeben werden, das würde ich mir wünschen. Dass man nicht jeden Tag von Beamten aller Ebenen hört, die Mittel verun­treuen – ob nun im Bau- oder im Reparaturwesen, bei staatlichen Ausschreibungen oder bei der Auszahlung von Zuschüssen, Renten und Löhnen.

Jede Meldung über die Aufdeckung von Betrügereien ist für mich wie ein Stich ins Herz, als hätte man mir in die eigene Tasche gegriffen. Man muss sich nur mal vorstellen, wie viel mit den zwei Billionen Rubel (etwa 26 Milliarden Euro) hätte getan werden können, die nach Angaben des Rechnungshofes im Jahr 2017 Beamte abgezweigt haben. Wenn alles gestohlene oder in Steuerparadiese transferierte Geld wieder zurückkäme, wer weiß, vielleicht müsste dann auch nicht das Renteneintrittsalter erhöht werden.

Würden die betroffenen Beamten durch andere ersetzt, würde sich allerdings wohl kaum etwas ändern. Mitgehen zu lassen, was nicht niet- und nagelfest ist, hat Tradition, oben wie unten. Nur schleppt der eine nur Drucker­papier nach Hause und der andere Millionen.

Über einen meiner Großväter sprach man im Familienkreis wie über einen etwas kauzigen Helden. Er war Chefingenieur in einer Textilfabrik, schlug aus seiner dienstlichen Stellung aber keinen Vorteil und steckte sich am Arbeitsplatz nie etwas in die eigene Tasche. In den Erzählungen schwang immer eine leichte Unzufriedenheit mit: Hätte er sich anders verhalten, könnten wir jetzt in einer besseren Wohnung leben. Und das machten erstens schließlich alle, zweitens hatte der Staat mit uns ja auch kein Mitleid, zahlte kleine Löhne, kleine Renten. Also war es, so fand man, doch legitim, sich ein kleines Stück vom großen Kuchen abzuschneiden. Es ist diese Ideologie, die sich ändern muss.

 

Birger Schütz

Weniger Ruppigkeit, bitte!

Luft anhalten, durchdrängeln und sich an den Stationen energisch in Richtung Tür schieben: Mein alltäglicher Arbeitsweg mit der Moskauer Metro gestaltet sich oft ziemlich ruppig. Schnell hat man einen Ellbogen in den Rippen oder wird von energischen Großmüttern zur Seite geschoben, die den letzten freien Sitzplatz im völlig überfüllten Zug erspäht haben. Auch auf dem anschließenden Fußweg zur Redaktion geht es meist eher rustikal zu. Schon öfter musste ich stolpern, weil zielstrebige Moskauer, denen ich offenbar zu langsam bin, mir nach dem Überholen ruckartig vor die Füße laufen. Dass sie mich durch ihr oft rücksichtsloses Verhalten behindern, scheint ihnen nicht mal aufzufallen.

Leider schlägt sich diese Ruppigkeit oft auch in anderen Sphären nieder. Ob der Konflikt mit der Ukraine, der Druck auf Belarus, der Schlagabtausch mit der EU oder der Dauerstreit mit den USA: Mit vielen Staaten pflegt Russland zurzeit einen nicht gerade sanften Umgang. Aber auch in der Innenpolitik sind oft eher derbe Umgangsformen angesagt. Da wird ein bekannter Oppositionspolitiker am Flughafen an der Ausreise behindert, ein fast 80 Jahre alter Politaktivist unter zweifelhaften Begründungen festgehalten, während junge Hip-Hop-Künstler von aufgebrachten Elternkollektiven angegangen werden. Dass Russen auch ganz anders können, weiß jeder, der schon einmal in eine Moskauer Küche eingeladen war. Die Gespräche, die ich dort führen konnte, waren oft von großer Herzlichkeit und einem kulturellen Weitblick geprägt, der mir in Deutschland bisher wenig begegnet war. Deshalb wünsche ich mir, dass in diesem Jahr etwas mehr von dieser großherzigen und freundlichen Seite zu spüren sein wird, auch in der offiziellen Politik. Ohne Ruppigkeit lebt es sich letztlich leichter.

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