Männlich, stark, lebensmüde

Fehlende wirtschafltiche Perspektiven, falsch verstandene Stärke, Alkohol-und Drogenmissbrauch: Jedes Jahr setzen Zehntausende in Russland ihrem Leben ein Ende. Vor allem unter dem angeblich starken Geschlecht ist der Suizid stark verbreitet.

Trauriger Rekord: In Russland töten sich etwa sieben Mal mehr Männer als Frauen. /Foto: www.chistovik.info

Jurij Pronko ist erschüttert. „Ich weiß natürlich, dass die Situation im Land weit entfernt vom Ideal ist“, sagt der Moderator des konservativ-orthodoxen Fernsehsenders „Zargrad“ mit besorgter Miene. „Aber dass Russland bei den Selbstmorden unter Männern den ersten Platz einnimmt, hat mir einen Schock versetzt!“ Im Durchschnitt würden 48 von 100 000 Russen ihrem Leben ein Ende setzen, erläutert der Journalist mit bebender Stimme. „Das ist meiner Meinung nach eine nationale Tragödie. Unser Staat verliert seine starke Hälfte!“

Suizidrate bei Männern höher

Grund der Fassungslosigkeit Pron­kos ist eine Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum Thema Suizid von Anfang September. Der Untersuchung zufolge nahmen sich russische Männer 2016, dem Jahr der letzten weltweiten Erhebung, sieben Mal so oft das Leben wie russische Frauen. Auf den weiteren Plätzen der Statistik folgen mit 47 beziehungsweise 46 Selbsttötungen pro Hunderttausend Männern Litauen und der südamerikanische Staat Guyana. Zu den Gründen für die Lebensmüdigkeit der Russen macht die WHO-Studie keine Angaben. Dafür spekulieren Medien und Kommentatoren umso mehr. So verweist der russischsprachige Dienst der BBC in einer Analyse auf das klassische Geschlechter-Stereotyp der Stärke. Dieses erschwere es Männern, sich in psychologischen Notlagen und Situationen der Schwäche Hilfe bei Ärzten oder Freunden zu suchen. Zudem sei der Todeswunsch beim angeblich starken Geschlecht meist viel stärker ausgeprägt. Deshalb griffen Männer oft zu radikaleren und fatalerweise effektiveren Methoden der Selbsttötung.

Einsame Entscheidungen in Not

Zudem setzten ökonomische Probleme den russischen Männern stark zu – und könnten oft zu verzweifelten und einsamen Entscheidungen führen. So erhöhe sich in Zeiten von wirtschaftlicher Rezession und steigender Arbeitslosigkeit statistisch nachweisbar die Zahl der Suizide, schreibt die BBC. Für einige russische Kommentatoren ist dies sogar der hauptsächliche Grund der Selbstmordepidemie. So sprach Jurij Pronko in seiner Sendung beispielsweise von einem „Kreis der Hoffnungslosigkeit“. „Jahrelange Armut und Unsicherheit über den nächsten Tag können zum letzten Schritt führen“, erklärte der Moderator, für den traditionell allein die Männer für das materielle Wohlergehen ihrer Familien verantwortlich sind. Verstärkt werde dieser Druck zudem durch Alkohol- und Drogenmissbrauch. Noch einen Schritt weiter ging der Politiker Wladimir Petrow. „Streitsüchtige Frauen“, die sich über niedrige Einkommen und fehlenden S­trand­urlaub beschwerten, stürzten ihre Männer in Schulden, polterte der Abgeordnete der gesetzgebenden Versammlung des Leningrader Gebietes in einem Gespräch mit der „Komsomolskaja Prawda“. Könnten die Männer die Rückstände nicht mehr bedienen, sähen viele keinen anderen Ausweg.

Alle zwölf Minuten

Doch nicht nur bei den Suiziden unter Männern bricht Russland einen traurigen Rekord. Auf die gesamte Bevölkerung gesehen, erreichte das Land 2016 die dritthöchste Selbstmordrate weltweit. Etwa alle zwölf Minuten setzte ein Mensch seinem Leben ein Ende. Dies entspricht 122 Selbsttötungen am Tag und insgesamt 44 673 im Jahr. Zuvor war diese Zahl nach offiziellen Angaben 14 Jahre lang gesunken – und hatte 2013 mit rund 25 000 Fällen den tiefsten Stand seit 50 Jahren erreicht. In der WHO-Studie rangiert Russland nach dem tragischen Spitzenreiter Guyana in Südamerika, wo auf 100 000 Einwohner durchschnittlich 30 Selbsttötungen kommen, und Lesotho. In dem Land im Süden Afrikas liegt die Quote bei 28 Suiziden. Russland erreicht einen Wert von 28 Selbsttötungen.

Programm zur Prävention angekündigt

WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus fordert angesichts der erschütternden Zahlen Konsequenzen. „Wir rufen alle Staaten auf, Programme und Strategien zur Suizidprävention in Bildung und Gesundheitsvorsorge aufzunehmen!“ Gegenwärtig verfügen nur 38 der 183 in der WHO organisierten Länder über entsprechende Konzepte. Auch in Russland lässt ein bereits im Jahr 2016 angekündigtes Staatsprogramm zur Suizidprävention bisher auf sich warten. In Deutschland haben sich schon im Jahr 2002 über 90 Organisationen, Verbände und Institutionen zum Nationalen Suizidpräventionsprogramm (NaSPro) Deutschland zusammengeschlossen.

Birger Schütz

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