Erschöpft blickt er hinab ins Tal, den rechten seiner kräftigen Arme stützt er auf seinen Abbauhammer, im linken hält er ein Stück Kohle. Sein rotes Herz scheint in den wolkenverhangenen Abendhimmel, zu seinen Füßen liegen Gesichter mit geschlossenen Augen, wie verschüttete Bergmänner im ewigen Schlaf. Das Denkmal des berühmten Bildhauers Ernst Neiswestnyj wurde 2003 zu Ehren der Bergleute des Kusbass errichtet.
Wie sein berühmtestes Werk, die Maske der Trauer in Magadan, lässt auch der Bergmann in Kemerowo den Betrachter in Ehrfurcht erstarren. Dort sind es die Opfer der Repressionen in der Sowjetunion, denen gedacht wird, hier sind es „die Heldentaten der härtesten und gefährlichsten Arbeit“, so der Künstler. Wir sind im Kusnezker Becken, kurz Kusbass, Russlands wohl bekanntestem Kohlerevier.
300 Jahre sibirische Kohle
Wer etwas über die Geschichte des Kusbass erfahren will, der muss vom Denkmal für die Bergleute nur ein paar hundert Meter den Hang entlanggehen. Dort empfängt das Museum Krasnaja Gorka seine Gäste. Im Hof stehen Maschinen und Fahrzeuge aus dem Bergbau, ein Tagebau-Muldenkipper, ein Bagger, eine Hängebahn, die einst die Bergleute zu ihrem Arbeitsplatz unter Tage brachte. In einem Kellerraum wurde ein Bergwerk mit Originalutensilien nachgebaut, Filme zeigen den Alltag in den Gruben zu Sowjetzeiten. Doch das Interessanteste wartet im Hauptgebäude, die historische Ausstellung.
Hier klärt sich dann, warum der Kusbass sich momentan mit einer großen Kampagne auf sein 300. Jubiläum vorbereitet. Im Frühjahr 1721 entdeckte der deutsche Arzt und Naturforscher Daniel Gottlieb Messerschmidt hier auf dem Hügel oberhalb des Flusses Tom Steinkohlevorkommen. Später stellte sich heraus, dass sie zu den größten der Welt gehören. Damit legte er den Grundstein für das heutige Kohlerevier.
Bis dahin sollten jedoch noch viele Jahre vergehen. Zu abgelegen war das Gebiet, zudem kaum besiedelt. Erst der Bau der Transsibirischen Eisenbahn samt Zweigstrecken schuf die Grundlage für die Industrialisierung, die schließlich nach der Oktoberrevolution in rasantem Tempo begann.
Autonome Industriekolonie als wirtschaftliches Experiment
In den Anfangsjahren der Sowjetunion wurde eine relativ liberale Wirtschaftspolitik verfolgt und so setzte man auf Know-how aus dem Ausland. Dabei hatte man vor allem sozialistisch gesinnte Spezialisten mit Pioniergeist im Blick. Um das Kohlebecken zu erschließen, wurde 1922 die „Autonome Industriekolonie Kusbass“ gegründet. Das Unternehmen unterhielt Büros in den USA, Deutschland und anderen Staaten, um Fachleute zu rekrutieren. Vorsitzender wurde der niederländische Marxist und Bauingenieur Sebald Rutgers, der zuvor in den USA gelebt hatte. Der Großteil der rund 750 Spezialisten kam ebenfalls aus Amerika, weitere stammten unter anderem aus Deutschland, Finnland und Serbien.
Sebald Rutgers erreichte bei der Politik, dass das Unternehmen weitgehend unabhängig wirtschaften durfte. In dem multinationalen Experiment gab es durchaus eine gewisse nationale Spezialisierung, wie man in der Ausstellung erfährt. Die Amerikaner errichteten die Kohlebergwerke, die Deutschen die Kokerei, die noch heute auf der anderen Seite des Flusses steht. Finnen und Niederländer waren vor allem als Bauingenieure tätig.
Lange existierte das Experiment nicht. Das Modell einer ausländischen Industriekolonie passte nicht mehr zur politischen Lage und 1926 wurden die Verträge gekündigt. Fast alle Ausländer verließen das Land, manche wurden gar Opfer von Repressionen.
Doch während der wenigen Jahre, die das Unternehmen wirtschaftete, wurden einige Kohlebergwerke in Betrieb genommen, die erste Kokerei Russlands errichtet und ein moderner Landwirtschaftsbetrieb gegründet. Siedlungen wurden ans Stromnetz angeschlossen und Wohnraum geschaffen.
Architektonisches Erbe aus den Niederlanden
Bemerkenswert sind die Bauten des niederländischen Architekten Johannes Bernardus van Loghem. Ganz in der Nähe des Museums befinden sich 1926 errichtete Reihenhäuser für Arbeiter, die sogenannten „Wursthäuser“. Die Mitarbeiterinnen des Museums weisen gerne den etwa 15-minütigen Fußweg. Den Reihenhäusern liegt die gleiche Idee wie den deutschen Gartenstädten zugrunde. Jede Arbeiterfamilie sollte ein eigenes Haus und einen eigenen kleinen Garten haben. Sie stehen unter Denkmalschutz, sind aber leider ziemlich dem Verfall preisgegeben. Besser geht es der Schule, die derselbe Architekt direkt daneben geplant hat.
Von hier kann man direkt mit der Straßenbahn hinunter ins Zentrum fahren. Kemerowo ist eine durch und durch sowjetische Stadt. Sie hat erst 2018 ihren 100. Geburtstag gefeiert und die City ist geprägt von der Architektur des Stalin-Klassizismus. Die repräsentativen Bauten stammen aus dieser Epoche, etwa das Rathaus oder das Gebäude der Regionalverwaltung. Mit etwas mehr als einer halben Million Einwohner ist es neben dem älteren Nowokusnezk eines der beiden kulturellen und wirtschaftlichen Zentren der Region.
Wer in Bergwerksatmosphäre speisen will, der geht ins Saboj. Der Eingang sieht aus wie ein Stollen und man sitzt in weitgehender Dunkelheit auf roten Sofas, die auf Grubenwagen montiert sind. Ein Bergmann hält auf Knopfdruck Reden über seine Arbeit, serviert wird raffinierte sibirische Küche.
Auf ein Bier mit Bergmann Sergej
Man kann jedoch auch echten Bergmännern begegnen, etwa im Irish Pub Harat’s. Dort kehrt gerade Sergej ein, der einen seiner freien Tage hat. Deren hat er viele. Und er braucht sie. Bei der harten Arbeit unter Tage folgen auf drei Arbeitstage drei freie, wie er erzählt. Ein ganz eigener Rhythmus. Seine Schicht im Bergwerk „Juschnij“ beginnt am frühen Abend und endet in der Nacht. Seine Aufgabe ist es, in etwa 300 Metern Tiefe neue Strecken in das Gestein zu fräsen, sodass die Kollegen später an die Kohlenflöze herankommen. Vier Leute sind sie im Team. Er ist der Leiter, einer steuert die Kombine oder Teilschnittmaschine. So heißt das Ungetüm auf Raupen, das sich mit einem Schneidkopf voll kleiner Meißel in den Berg frisst.
„Die Arbeit ist gut bezahlt, aber gefährlich“, sagt er. „Ich bin für das Leben meiner drei Kollegen und mein eigenes verantwortlich, das ist manchmal beklemmend.“ Sie arbeiten immer in der gleichen Formation. „Wir können mit Gesten oder gar nur Blicken kommunizieren. Wir sind wie eine Familie, das ist beinahe heilig“, sagt er. „Es ist mir wirklich ernst mit der Sicherheit.“
Vielleicht betont er das so sehr, weil er im Pub eher ein Spaßvogel ist, der für Stimmung sorgt. Und noch etwas ist ihm besonders wichtig: „Mein Großvater war Bergmann, mein Vater hat sein ganzes Leben im Bergwerk verbracht und ich habe die Tradition fortgeführt. Aber ich will nicht, dass mein vierjähriger Sohn in unsere Fußstapfen tritt. Dafür werde ich alles tun.“
Nowokusnezk: „Man zieht sich besser keine weißen Sachen an“
Die nächste Station ist Nowokusnezk. Auf der vierstündigen Busfahrt geht es zunächst kilometerlang durch menschenleeres Flachland. Etwa eine Stunde vor dem Ziel wird die Landschaft hügelig und dicht besiedelt. Nowokusnezk ist die älteste Stadt des Kusbass, hat ein paar Einwohner mehr als Kemerowo und wirkt ein wenig großstädtischer, mit vielen Parks und Grünstreifen. „Ich werde nie verstehen, warum wir nicht die Hauptstadt des Kusbass sind“, sagt Schanna, die mir für ein paar Tage ein Zimmer vermietet. Die typischen Rivalitäten.
Im 17. Jahrhundert wurde hier eine Festung errichtet, auch Metallverarbeitung gab es damals bereits. Zur Industriestadt wurde Nowokusnezk allerdings erst ab den späten 1920er Jahren, als ein Metallurgiekombinat errichtet wurde. Es folgten bald weitere Werke, darunter eine Aluminiumhütte.
Die Metallindustrie ist die Existenzgrundlage und zugleich das größte Problem der Stadt. „Wenn kein Wind weht, haben wir schrecklichen Smog“, sagt Schanna, „man kann kaum ein paar Meter weit sehen. Das Atmen fällt mir schwer. Und man zieht sich besser keine weißen Sachen an.“ Die Stadtoberen behaupteten zwar, es gebe neue Filteranlagen, aber wirklich verbessert habe sich nichts.
Tagebau bringt Probleme mit sich
Probleme mit der Luftverschmutzung gibt es auch andernorts im Kusbass, etwa in Kisseljowsk. Dort befinden sich die großen Tagebauanlagen. Das ist billiger und sicherer als der Untertagebergbau, führt jedoch zur Zerstörung der Landschaft und setzt giftige Gase frei. Gut 30 Prozent der im Kusbass geförderten Steinkohle stammen mittlerweile aus Tagebauen. Im vergangenen Jahr ging ein Video um die Welt, in dem Einwohner von Kisseljowsk in Kanada um Asyl baten, weil die Situation unerträglich wurde. Brennende Kohlflöze verpesten die Luft, im Winter färbt sich der Schnee schwarz.
Das soll es laut Schanna auch in Prokopjewsk geben, der kleineren Nachbarstadt von Nowokusnezk. „Kommen Sie im Winter! Schwarzen Schnee haben Sie bestimmt noch nicht gesehen“, sagt sie. Prokopjewsk scheint der Underdog der Kusbass-Städte zu sein. Sie gehe da nicht gerne hin. Bergmann Sergej meint, das sei vor allem in den 1990ern wegen der Kriminalität berüchtigt gewesen.
Wer die Warnungen ignoriert, erlebt eine Bergbaustadt wie aus dem Bilderbuch. Hier wird wie in Sergejs Bergwerk noch unter Tage gefördert. Mit der hügeligen Landschaft, den zahlreichen Fördertürmen und den weit verstreuten Grubensiedlungen erinnert Prokopjewsk ans südliche Ruhrgebiet. Es gibt kein richtiges Zentrum – oder wenn man es so bezeichnen will, dann mehrere. Alles ist mit einer rumpelnden Straßenbahn miteinander verbunden, die teils kilometerweit durch die Prärie fährt, bis wieder eine Siedlung auftaucht. An einer Endhaltestelle wird vom Lkw herab Kohle verkauft, gegenüber bieten Bauern Blumen, Obst und Gemüse feil, auf der Motorhaube ihres Lada. Im Lebensmittelladen ist ein älterer Mann mit Stock unterwegs, auf seiner Biker-Lederjacke prangt in großen Lettern der Schriftzug „Kusbass – Prokopjewsk.“ Lokalstolz haben sie. Und echte Kohlenpott-Atmosphäre!
Jiří Hönes