Kalinin-Straße? „Eine Beleidigung für jeden Moskauer“

Russlandweit tragen mehr als 2000 Straßen den Namen von Michail Kalinin, einem sowjetischen Spitzenpolitiker und treuen Gefolgsmann Stalins. Igor Stepanow, früherer Abteilungsleiter bei der Generalstaatsanwaltschaft, findet das unerträglich. Er hat bei der Stadt Moskau die Umbenennung der Moskauer Kalinin-Straße beantragt. Im MDZ-Interview erklärt er, warum.

Der Name von Michail Kalinin ist in Russland nahezu omnipräsent. Noch? (Foto: Pinterest)

Herr Stepanow, die Stadt hat öffentlich verlautbart, dass die Namenskommission Ihren Antrag prüfen wird. Aber machen Sie sich tatsächlich Hoffnung, dass die Antwort positiv ausfallen könnte? Oder geht es Ihnen vor allem darum, Denkprozesse in der Gesellschaft anzustoßen?

Ich halte es für unerlässlich, dass eine rechtliche Bewertung all dessen erfolgt, was in Russland im vorigen Jahrhundert passiert ist. Eine solche rechtliche Bewertung nimmt nicht die Gesellschaft vor, sondern die Staatsmacht. Wenn sich die heutige davor drückt, dann tut es eben die nächste.

Wie die Erfahrung von Russland und Deutschland zeigt, wechselt die Macht sogar dann, wenn sich ihre Vertreter Hoffnung machen, ewig zu regieren.

Russische Stadtpläne sind voll mit Straßen, Plätzen oder auch Parks, die nach hochrangigen sowjetischen Politikern benannt wurden. Michail Kalinin war von 1923 bis 1946 als Vorsitzender des Obersten Sowjets eine eher dekorative Figur. Warum ist ausgerechnet er Ihnen als Namensgeber einer kleinen Straße im Stadtbezirk Selenograd ein Dorn im Auge?

Ich habe nicht mit Kalinin angefangen, wobei das vielleicht angebracht gewesen wäre. Denn er war es, der von 1941 bis 1944 die Erlasse „Über die Umsiedlung der Deutschen aus dem Wolgagebiet“, „Über die Auflösung des autonomen Gebiets der Karatschaier und die administrative Neuordnung ihres Territoriums“, „Über die Auflösung der Kalmückischen ASSR und die Einrichtung des Astrachaner Gebiets innerhalb der RSFSR“, „Über die Auflösung von Tschetscheno-Inguschetien und die administrative Neuordnung des Territoriums“, „Über die Umsiedlung der Balkaren aus Kabardino-Balkarien und die Umbenennung von Kabardino-Balkarien in Kabardinien“ und weitere unterzeichnete. Auf dieser Grundlage wurden ganze Völker, nämlich die Deutschen, Karatschaier, Kalmücken, Tschetschenen, Inguschen, Balkaren und andere zwangsumgesiedelt.

Der Oberste Sowjet der UdSSR hat diese Zwangsumsiedlung 1989 in einer Deklaration als „gesetzeswidrige und verbrecherische Verfolgung“ eingestuft. Gleiches gilt für das Gesetz der Russischen SFSR „Über die Rehabilitierung der verfolgten Völker“ von 1991 und eine Verordnung des Obersten Sowjets der UdSSR aus dem selben Jahr, mit der die von Kalinin unterzeichneten Erlasse außer Kraft gesetzt wurden. Wenn jedoch die gesetzlichen Vorschriften ein Verbrechen darstellen, dann folgt daraus, dass ihr Unterzeichner ein Verbrecher ist. Deshalb habe ich mich ans Rathaus gewandt.

Der Name eines Verbrechers auf der Karte Moskaus ist eine Beleidigung für jeden Einwohner der Stadt, darunter auch für mich. Ich wundere mich ehrlich gesagt, dass die Forderung nach Umbenennung nicht bereits von anderen Moskauern erhoben wurde. Auch unter Ihren Lesern gibt es bestimmt viele, deren Familien unter den Taten Kalinins gelitten haben. 

Kalinin stand noch zu Lebzeiten auch Pate für die Stadt Kalinin, das damalige und heute Twer. Es wurde 1990 rückbenannt. Nach Kalinins Tod 1946 wurde jedoch auch das nach Kriegsende an die Sowjetunion gefallene Königsberg zu Kaliningrad. Ist es vor diesem Hintergrund überhaupt denkbar, dass die Stadt Moskau mit der Umbenennung einer relativ unbedeutenden Straße einen Präzedenzfall schafft? Nach den Aktivitäten in dieser Richtung Anfang der 90er Jahre scheint die Bereitschaft zu solchen Schritten mittlerweile fast auf dem Nullpunkt angekommen zu sein.

Oft dreht sich der Wind sehr schnell. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass in Amerika und Europa auf einmal gefordert wird, Denkmäler von Sklavenhaltern zu demontieren? Dasselbe wird mit den Denkmälern der Sowjetführer und mit der Umbenennung der nach ihnen benannten Straßen passieren. Wenn nicht heute, dann morgen.

Ein Präzedenzfall ist natürlich wichtig. Und die Mitglieder der Namenskommission werden ihn schaffen, egal, welche Entscheidung sie treffen.

Was Kaliningrad betrifft: Auch seine Umbenennung habe ich beantragt. In ihrer Antwort darauf hat Marina Orgejewa, die Vorsitzende der regionalen Duma, ersucht, „kartografisches Material, Berechnungen der notwendigen Ausgaben und Quellen zu ihrer Finanzierung“ beizufügen. Darum werde ich mich kümmern.

Stand mehr als zwei Jahrzehnte formal an der Spitze der Sowjetunion: Michail Kalinin (Foto: Kommunistische Partei Russlands)

Man hat nicht unbedingt den Eindruck, dass Straßennamen in Russland nennenswerte Kontroversen hervorrufen oder überhaupt eine Rolle im gesellschaftlichen Bewusstsein spielen.

Das ist vielleicht das Unglaublichste von allem. Die Nachfahren der Opfer laufen auf den Straßen, die nach deren Peinigern benannt sind, als sei nichts gewesen.

Nehmen Sie das Dorf Schemtala in Kabardino-Balkarien, wo es eine Stalin-Straße gibt. Man kann wohl davon ausgehen, dass den heutigen Ortsvorsteher Chaschmurid Dokschukin und die 13 zu Sowjetzeiten politisch verfolgten Einwohner namens Dokschukin verwandtschaftliche Beziehungen verbinden. Genauso wie den Direktor der Schule in der Stalin-Straße, Herrn Kudajew, und die 20 Kudajews unter den Verfolgten aus dem Dorf. 2019 lebten in Schemtala 3342 Menschen. In der Zeit des Stalin-Terrors gerieten 536 Dörfler in dieses Räderwerk. Das muss man sich mal vorstellen. Ein Sechstel der heutigen Bevölkerung!

Dort gibt es garantiert in jeder Familie Opfer aus jener Zeit. Und eine Stalin-Straße.

In anderen osteuropäischen Ländern und auch in ehemaligen Sowjetrepubliken wird die kommunistische Vergangenheit heute oft sehr kritisch gesehen oder sogar eine Politik der „Entkommunisierung“ betrieben, zu der auch der Abriss von Lenin-Denkmälern und die Umbenennung von Straßen und Städten gehört. Nichts dergleichen ist in Russland zu beobachten. Und auch die Bürger haben meist ein überwiegend positives Bild von der Sowjetunion. Wie erklären Sie sich das?

Das mag daran liegen, dass das heutige Russland außer dem Sowjet­erbe wenig Grund hat, auf etwas stolz zu sein. Und wenn dann auch noch im Fernsehen ständig die sowjetischen Erfolge gepriesen werden, dann glauben viele am Ende selbst daran. Sogar die, die diese „Erfolge“ miterlebt haben und es eigentlich besser wissen müssten.

Was hat Sie veranlasst, sich mit Ihren Initiativen für die Opfer politischer Verfolgung in Russland einzusetzen?

In meiner Familie gab es viele Geistliche. Vorfahren von mir waren in den Kirchen von Nischnij Nowgorod schon im 18. Jahrhundert tätig. Nach der sogenannten Oktoberrevolution wurden die Geistlichen zu einer der meistverfolgten sozialen Gruppen in Sowjetrussland. Mehr als 20 meiner Verwandten wurden verfolgt, viele kamen um.

Ich will, dass die Henker zur Verantwortung gezogen werden, zumindest moralisch. Sowohl jene, die den Tod von Geistlichen auf dem Gewissen haben, als auch die, die hinter der Deportation der Deutschen, Tschetschenen oder Kalmücken standen. Wenn wir die Täter von damals vergessen, dann kehren sie zurück, wenn auch unter anderem Namen.

Das Interview führte Tino Künzel.

Viel Lenin und ein wenig Stalin

Der Suchdienst Yandex weist für Russland 21 Stalin-Straßen mit einer Gesamtlänge von 29 Kilometern aus. Die meisten davon befinden sich im Nordkaukasus, besonders viele in der Teilrepublik Nordossetien (Hauptstadt Wladikawkas) an der Grenze zu Georgien.

Häufigster Namensgeber für russische Straßen ist allerdings unangefochten Lenin. 5459 Straßen sind nach ihm benannt. Und nicht nur das: In der Regel handelt es sich dabei um die zentrale Hauptstraße des jeweiligen Ortes.

Ebenfalls weit verbreitet im Straßennetz, wenn auch mit deutlichem Abstand auf Lenin, sind die Namen von Gagarin, Kirow, Puschkin und – Kalinin. Der sowjetische Ursprung vieler Bezeichnungen zeigt sich auch in Straßennamen wie Oktoberstraße, Straße des 1. Mai, Komsomolstraße oder Sowjetische Straße.

In den Top 10 der russischen Straßennamen findet sich aber selbst Lenin nur auf Platz acht, als einzige Person. Nach einer Erhebung von Yandex aus dem Jahre 2017 wird die Liste angeführt von der Zentralen Staße, der Straße der Jugend, der Schulstraße, der Sowjetischen Straße, der Gartenstraße, der Waldstraße und der Neuen Straße.

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