Erstickt im Kugelhagel

Panzer, Scharfschützen und eine unbekannte Zahl von Toten: Im Juni 1962 wurde im südrus­sischen Nowotscherkassk der größte Arbeiteraufstand der Sowjet­union niedergewalzt. Ein russischer Spielfilm über das Massaker hat nun einen wichtigen Kinopreis gewonnen.

Mindestens 26 Menschen starben bei der Niederschlagung des Aufstandes von Nowotscherkassk. (Foto: labiennale.org)

Am 1. Juni 1962 hatten die Arbeiter der größten sowjetischen E-Lok-Fabrik „NEWS“ endgültig genug: Seit Jahren hausten sie in schäbigen Baracken, schufteten von früh bis spät unter schwersten Bedingungen und hatten doch kaum Geld zum Leben. Und nun der nächste Schlag: Tags zuvor hatte die Partei die Lebensmittelpreise um 35 Prozent erhöht – und gleichzeitig die kargen Löhne im selben Umfang gekürzt. Wie sollten die Angestellten des Industriegiganten im südrus­sischen Nowotscherkassk ihre Familien ernähren? Woher das Geld für die Miete nehmen? So ging es nicht weiter! Nach hitzigen Diskussionen legten gegen 10 Uhr rund 200 Stahlgießer die Arbeit nieder, Angestellte anderer Werkstätten schlossen sich an. Etwa 1000 Streikende zogen zur Betriebsleitung. „Von was sollen wir künftig leben?“, wollten die aufgebrachten Arbeiter wissen. Fabrikdirektor Kurotschkin trat vor die Menge. „Wenn Sie kein Geld für Fleischpiroggen haben, essen Sie halt welche mit Leber“, soll der Spitzenbeamte den verzweifelten Menschen empfohlen haben.

„Macht Chruschtschow zu Wurst“

Was dann folgte, ging als größter Arbeiteraufstand der Sowjetunion in die Geschichte ein. 5000 Arbeiter und hunderte Einwohner liefen zu den Streikenden über und zogen mit Lenin-Porträts, roten Fahnen und dem Transparent „Macht Chruschtschow zu Wurst“ durch Nowotscherkassk. Sie forderten eine Rücknahme der Preiserhöhungen und besetzten die Gleise der Zugverbindung zu Moskau. Die Reaktion der Machthaber war brutal. Parteichef Nikita Chruschtschow beendete den Streik nach zwei Tagen mit Panzern und Scharfschützen. Nach offiziellen Angaben kamen 26 Menschen im Kugelhagel ums Leben, 70 wurden zum Teil schwer verletzt. Die Getöteten wurden heimlich in Gräbern unter falschen Namen begraben, so dass sie nie gefunden werden konnten. Auch deshalb liegt die wirkliche Zahl der Opfer bis heute im Dunkeln. Sieben angebliche Streikführer wurden als Rädelsführer verurteilt und erschossen, 103 Teilnehmer mit bis zu 15 Jahre Lagerhaft bestraft. Bis zur Perestroika galten die Vorgänge als strenges Staatsgeheimnis, erst 1996 wurden die Verurteilten offiziell rehabilitiert.

Regisseur Andrei Kontschalowski setzt den Arbeiteraufstand von Nowotscherkassk in Schwarz-Weiß-Bildern in Szene. (Foto: labiennale.org)

Der russische Regieveteran Andrej Kontschalowski rückt das lange verdrängte Massaker nun ins Zentrum seines Historienfilms „Dorogije Towarischtschi“ (Liebe Genossen). Das Drama wurde im September bei den Filmfestspielen in Venedig gezeigt und mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet. Im November soll es in den russischen Kinos anlaufen.
Er habe einen Film über die Generation seiner Eltern und deren Konflikt zwischen bedingungslosem Vertrauen in den Kommunismus und der grauen Realität der Tatsachen drehen wollen, wird Kontschalowski vom Internetauftritt der Filmfestspiele zitiert. „Dieser Film ist ein Tribut an die Reinheit dieser Generation, ihre Opfer und die Tragödie, die sie erlebte, als sie ihre Mythen zusammenbrechen sah und ihre Ideale verraten sah“, erklärt der Regisseur, dessen Vater, der Dichter Sergej Michalkow, unter anderem den Text der sowjetischen Nationalhymne schrieb.

Erschießungen als Mittel der Problemlösung

Erzählt werden die Ereignisse aus Sicht der überzeugten Kommunistin Ljudmila, welche der harten Hand Stalins hinterhertrauert, jeglichen Widerspruch aus tiefstem Herzen verachtet und Erschießungen für ein probates Mittel zur Lösung politischer Konflikte hält. Gespielt wird sie von der Schauspielerin Julia Wysotskaja, der Ehefrau Kontschalowskis. Die allein erziehende Ljudmila erwacht zu Beginn des Films im Bett ihres Liebhabers, eines Parteisekretärs des Nowotscherkassker Stadtrates. Kurz empört sich Ljudmila ehrlich über die Preiserhöhungen – und holt sich kurz darauf ein pralles Spezialpaket mit Räucherwurst und anderen Spezialitäten, mit denen die Partei ihre Nomenklatura versorgt. Hunger könne es im Arbeiter- und Bauernparadies nicht geben, findet die privilegierte Funktionärin und fordert auf einer Sitzung des örtlichen Exekutivkomitees strenge Strafen für die streikenden Panikmacher aus der Fabrik. Tags darauf rollen die Panzer an, Schüsse fallen – und Ljudmilas Tochter verschwindet. Für Anton Dolin, Russlands bekanntesten Kinokritiker, gehört „Dorogije Towarischtschi“ zu den wichtigsten Neuerscheinungen des Jahres. Trotz Aufhebung der Zensur sei das Massaker von Nowotscherkassk im heutigen Russland immer noch weitgehend unbekannt. Allein deshalb könne Kontschalowskis Film gar nicht genug gewürdigt werden, schreibt er in einer Besprechung für das Internetportal „Meduza“. Es handele sich um die erste bewusste und systematische Auseinandersetzung mit dem Thema im russischen Kino überhaupt.

Birger Schütz

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