Der Arbeitskräftemangel hängt bei uns ganz klar damit zusammen, dass wir eine Abwanderung aus der Provinz in größere Städte haben. Jeder träumt davon, es in seinem Leben nach Moskau oder zumindest nach Wladimir zu schaffen. 2010 hatte Gus-Chrustalny 61.000 Einwohner, jetzt sind wir bei 49.000. Und es sind nicht die Rentner, die wegziehen, sondern die jungen Leute. Da geht es nicht nur um das Lohngefälle, sondern auch das Kulturgefälle, das Erlebnisgefälle, letztlich um Lebensqualität. In Moskau werden die Fußwege aus 20 Zentimeter dicken Granitplatten gemacht. Und dann schauen Sie mal, was in Gus-Chrustalny los ist.
Wir versuchen, die Leute zu halten. Durch Ausbildung, durch Weiterbildung. Wer eine Ausbildung hat, ist ein freierer Mensch. Er kann sich freier entscheiden, was er macht.
Wir bieten bei uns die duale Berufsausbildung an und arbeiten dabei mit den beiden Berufsschulen vor Ort zusammen. Es hat unheimlich viel Arbeit gekostet, das aufzubauen. Wir haben deutsche Lehrbücher gekauft und sie übersetzen lassen, wir haben Professoren aus Deutschland hierher geholt, um die Berufsschullehrer zu schulen. Aber es ist ja auch ein tolles Instrument, um gerade in schwierigen Zeiten junge Leute früh an sich zu binden. Man bildet sich die richtigen Leute mit den richtigen Fachkenntnissen aus, lernt sich kennen und hat eine hohe Loyalität bei solchen Mitarbeitern. Wir haben auf diesem Wege in der Vergangenheit tolle Leute bekommen, die bei uns geblieben sind und tolle Karrieren gemacht haben.
Früher hatten wir sechs, acht Jugendliche pro Jahrgang. Jetzt bekommen wir kaum noch vier zusammen, von denen wir glauben, dass sich die Investition lohnt. Es geht rapide bergab. Wir haben ein dreistufiges Auswahlsystem – schriftlich, mündlich und praktisch. Da merkt man, wie das Niveau absackt und dass es an elementarem Wissen fehlt. Auch an der Einstellung, leider.
Manchmal muss man es einfach so sagen: Wir sind stabil, nachhaltig, ehrlich, loyal, transparent. Ihr wisst, woran ihr bei uns seid.
Aber wir tun auch alles, damit es den Mitarbeitern gutgeht, und kommen ihnen sehr weit entgegen. Manche arbeiten lieber in Zwölf- statt in Acht-Stunden-Schichten. Darauf sind wir eingegangen, da sind wir flexibel. Wir zahlen Prämien zu den verschiedensten Anlässen. Wir holen die Leute mit unseren Bussen aus den umliegenden Dörfern ab. Es ist ein Riesenkatalog an Einzelmaßnahmen, mit denen wir beim Arbeitskräftemangel gegensteuern. Bis hin zu Sportwettbewerben, Kinderferienlagern und Ausflügen.
Wir haben gesagt, dass wir ein deutsches Dorf bauen wollen. Zwölf Häuschen mit Garten. Damit sich junge Familien hier ansiedeln und bei BauTex arbeiten. Das Projekt haben wir vor sieben Jahren angeschoben. Bis heute gibt es kein Bauland, wo wir es realisieren könnten.
Bei uns werden auch Kopfprämien gezahlt. Das ist heutzutage so, wenn man jemanden mitbringt oder empfiehlt und derjenige dann auch kommt, dann verdient man damit Geld. So entstehen ganz neue Geschäftsmodelle. Da stellst du so eine Gruppe ein und nach ein, zwei Monaten ziehen die weiter und verdienen sich anderswo wieder eine Kopfprämie. Diese Fluktuation ist natürlich nicht hilfreich.
Wir müssen auch mit den Gehältern nachziehen und mit unseren Produkten trotzdem konkurrenzfähig auf dem Markt bleiben. Meine Konkurrenz sind ja nicht die russischen Großunternehmen aus Moskau, sondern die chinesischen Hersteller. Ich glaube, die sehen Russland als Goldgrube, um ihre preisgünstigen Produkte abzusetzen. Lokale Hersteller gehen daran kaputt.
Mittelfristig werden die steigenden Gehälter dazu führen, dass Russland wieder unattraktiver als Wirtschaftsstandort wird. Das hatten wir früher schon mal, als der Rubel zu hart war in Relation zur Wirtschaftsleistung.
Ich kann nicht für alle sprechen, aber wir investieren weiter, sowohl in Menschen als auch in Maschinen.
Aufgeschrieben von Tino Künzel
Not am Mann
Allein in Moskau sind derzeit eine halbe Million Stellen unbesetzt. Und bis 2030 könnte sich die Zahl verdoppeln. Das sagte Bürgermeister Sergej Sobjanin der Nachrichtenagentur Tass. Doch ein lokales Problem ist das beileibe nicht. Acht von zehn Unternehmen in ganz Russland haben mit dem grassierenden Fachkräftemangel zu kämpfen, ergab eine Studie des Stellenportals Superjob. Besonders betroffen sind die Industrie und die Logistikbranche. Als Hauptgründe werden meist mangelnder Nachwuchs durch geburtenschwache Jahrgänge, ein empfindlicher Rückgang der Arbeitsmigration aus Nachbarländern und die Abwerbung von Arbeitskräften durch die gut dotierte Rüstungsindustrie genannt.