Die Geschichte einer Zeitzeugin

Maria Fitz (86) wurde als kleines Mädchen aus Südrussland in den Altai deportiert. Ihre Lebensgeschichte ist die Vorlage für das Buch „Der Wermutstannenbaum“, das in Russland zunächst erfolgreich war und später in Ungnade fiel. Die MDZ sprach mit der Protagonistin über das Buch, ihre Kindheit in Verbannung und Weihnachten.

Maria Fitz kann vieles über das Leben in Verbannung erzählen. (Foto: Julianna Martens)

Frau Fitz, „Der Wermutstannenbaum“ ist Ihre Geschichte. Wie nah ist sie an der Realität?

Wenn ich das Buch in der Hand habe, kommt alles wieder hoch, die Erinnerung an meine schwere Kindheit. Viele Menschen sagen, sie vergessen Sachen aus ihrer Kindheit. Ich kann mich an jeden Tag, den ich erlebt habe, erinnern. Ich habe nie gedacht, dass mein Schicksal erzählt wird. Und als Olga Kolpakowa es doch gemacht hat, habe ich ihr gesagt, es ist nicht mein Schicksal allein, sondern das aller deutschen Kinder, die weggebracht wurden, wie Sand im Wind im großen weiten Sibirien. Ich habe überlebt, viele andere nicht. Gerade wir kleinen Kinder waren eine Last für unsere Mütter, ein Mund, der ständig gefüttert werden wollte.

In diesem Buch sind alle Personen echt, außer zwei: Theodor, der als Cousin vorgestellt wird, und seine Mutter. Die beiden hat die Autorin Olga Kolpakowa dazugeschrieben. Und meine zwei Jahre ältere Schwester Vera heißt im Buch Mina. Ich habe Olga gefragt, warum sie ihr einen anderen Namen gegeben hat. Und sie hat geantwortet: Weil sie mit 14 Jahren gestorben ist und Schriftsteller geben den Figuren, die viel zu früh tragisch gestorben sind, einen anderen Namen.

Und da gibt es noch den Vater des Cousins, der als Jude erkannt wurde und sein eigenes Grab schaufeln musste, bevor er erschossen wurde. Das hat Olga wahrscheinlich aus anderen Geschichten genommen. Das stammt nicht aus meinem Leben.

Gab es auch Momente aus Ihrem Leben, die es nicht in das Buch geschafft haben? Etwas, was Sie noch erzählen könnten?

Ach, ich könnte Ihnen so viel erzählen. (lacht) Ich wurde 2016 krank und habe mich nicht gut gefühlt. Vorher habe ich gesehen, welche Geschenke die Urenkel bekommen. Einen Haufen. Einen Haufen, der zerrissen und weggeschmissen wird. Mir ist das Herz zerbrochen. Ich habe daran gedacht, worüber wir uns gefreut haben. Eine Handvoll Sonnenblumenkörner und gebackene Hunde aus Teig. Wir haben gekniet, wir haben gebetet, wir haben geträumt. Wir waren froh, dass das Christkind gekommen war, dass wir nicht vergessen waren. Es gibt sehr viel zu erzählen.

„Der Wermutstannenbaum“: ein Buch von Olga Kolpakowa (Foto: Julianna Martens)

Weihnachten damals

Im „Wermutstannenbaum“ geht es um Weihnachten in der Verbannung im Altai. Wie wichtig war das Fest für Ihre Familie und die russlanddeutsche Gemeinschaft?

Ich habe mich monatelang gefreut, auf das Fest und auf diesen Baum. Unsere Fantasie, dass uns das Engelchen was zu Weihnachten bringt, war blühend. Aus einer Kartoffelscheibe haben wir versucht, einen Docht zu machen. Da war so ein Rauch im Zimmer. Es gab nichts, aber meine Schwester, die zwei Jahre älter war, kriegte eine zusammengenähte Puppe mit einem mit Asche gefüllten Kopf. Sie war ganz klein, aber sie hatte Arme und Beine. Und sie hatte eine Schürze und ein Röckchen. Ich weiß nicht, wo meine Mama den Lappen herhatte.

Ich hatte so eine Puppe nicht. Jedes Jahr bekam ich eine, die aus Teig ausgeschnitten war. Ich weinte jedes Mal, weil ich auch was zum Spielen in der Hand halten wollte.

In Ihrem Dorf haben verschiedene Nationalitäten gewohnt. Hat man es mit Argwohn betrachtet, dass Sie Weihnachten feiern?

Wissen Sie, wir hatten uns irgendwie abgeschottet. Die Deutschen in unserem Dorf Berjosowka wohnten alle rundherum am Rand und alle weit voneinander entfernt. Ich weiß nicht, wie das gekommen ist. Im Winter hatten wir nichts anzuziehen und konnten nicht zu den anderen gehen. Es gab keine Kommunikation zwischen uns. Wir waren nur in unserer Familie. Und die Schwester von meiner Mutter mit einem Mädchen. Als Tante Mathilde in die Trudarmee musste, blieb Vera bei uns.

Später wohnten noch die Wirts und die Kaisers da. Die kamen dann auch vorbei und saßen zusammen. Das war schon später, als ich bereits was zum Anziehen hatte. Ich kann mich erinnern, dass es bei ihnen keinen Baum gab, sie haben das nicht gemacht. Ich weiß nicht, warum. Wir bekamen jedes Jahr den geschmückten Wermutsbaum.

Die Geschichte im „Wermutstannenbaum“ ist schmerzhaft. Kann man sie überhaupt Kindern von heute erzählen? 

Warum sollte man sie nicht erzählen können? Es war Krieg und mein Leben ist in diese Zeit gefallen. Wenn ich sehe, wie die Kinder jetzt leben, erinnere ich mich an meine Kindheit, und sie war ein furchtbarer Traum. Wir mussten morgens um fünf die Schweine aus dem Stall treiben und der Tau auf dem Gras war so furchtbar kalt. Wir liefen ja immer barfuß und hatten uns die Füße blutig gelaufen. Zuhause mussten wir sie dann in Lauge legen, die Oma gemacht hatte. Das tat unheimlich weh. Am schlimmsten war der Frühling, wenn es noch keine neuen Kartoffeln gab. Dann gab es kaum etwas zu essen. Wenn Sie sagen, es sei nicht gut, dies Kindern zu erzählen, ist das falsch. Sie müssen wissen, was der Krieg bringt und was Krieg ist. Es ist furchtbar.

Wann hatten Sie Ihren ersten richtigen Tannenbaum im Leben?

So ganz genau kann ich mich nicht erinnern. Aber es muss gewesen sein, als ich schon bei meinem Mann gewohnt habe. Mit 19 habe ich ihn kennengelernt, er war ein Deutscher. Seine Familie wohnte 36 Kilometer entfernt in einem anderen Dorf. Direkt nach der Schule habe ich ihn geheiratet. Wir wohnten im Schweinestall bei seinen Eltern. Ich glaube, da hatten wir den ersten richtigen Weihnachtsbaum.

Weihnachten heute

Wie feiern Sie heute Weihnachten?

Jetzt nicht mehr so groß. Meine Kinder sind aus dem Haus und meine Urenkel schon 18. Sie feiern jetzt bei sich. Für mich ist es schon sehr schwer, etwas zu machen. Aber wir haben immer einen Tannenbaum stehen. Solange ich noch kann, hole ich meine Urenkel zusammen und dann singen wir „Oh, Tannenbaum“ und „Mach hoch die Tür, die Tor macht weit“. Ich verteile die Liedblätter und dann singen wir. Und jeder Urenkel muss etwas erzählen, auswendig lernen oder singen. Das ist Pflicht.

Dieses Jahr wollte ich das nicht mehr machen. Meine Tochter hat mich dann aber gefragt, ob wir nicht die Teller, also die Gabenteller, aufstellen können, dann kommen alle. Ich habe gesagt: Wer am 24. Dezember keinen Teller aufstellt, der kriegt auch nichts. So kommen sicher alle zusammen, stellen ihre Teller auf und schreiben ihren Namen dazu. Dann kommt das Christkind in der Nacht und verteilt an alle etwas.

Das Gespräch führte Daniel Säwert.

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