Die Artillerie unter den Experten

Es ist schwierig, sich ein Bild von der Lage an der Front in der Ukraine zu machen. Unabhängige Berichte von dort gibt es kaum, zur Unkenntnis gesellt sich das Unverständnis, was die Nachrichten zu bedeuten haben. Wer erklärt den Deutschen also die Kräfteverhältnisse und wie hört sich das an?

Reisner, Keupp, Kujat (v.l.): Sie bewerten die Lage in den Medien. (Fotos: Österreichisches Bundesheer, Youtube_ServusTV_On, Wikimedia Commons)

Wenn allgemeine Verunsicherung auf einen gewaltigen Informationsbedarf trifft, schlägt die Stunde der Experten. Bei mehr oder weniger gewohnten Themen sind es oft immer dieselben. Doch ab und zu passiert etwas völlig Unvorhergesehenes und Unheilvolles. So wie die Corona-Pandemie 2020, so wie die militärische Eskalation in der Ukraine seit mehr als zwei Jahren. Um sich darauf einen Reim zu machen, braucht es Menschen mit Nischenwissen, häufig so speziellem, dass diese Fachleute vorher keiner kannte, zumindest in der breiten Öffentlichkeit. Doch plötzlich vergeht kein Tag mehr, ohne dass sie in Nachrichtensendungen zugeschaltet werden oder lange Interviews geben, analysieren, einordnen, Ratschläge erteilen und den mahnenden Zeigefinger heben.

Ungeschminkte Wahrheiten: Markus Reisner

Markus Reisner ist so einer, dessen Namen man neuerdings überall liest oder hört. Der 46-Jährige ist Oberst beim Österreichischen Bundesheer, er leitet die Offiziersausbildung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Reisner redet Klartext, ohne große Sprüche zu klopfen. Seine Erklärungen zum Geschehen an der Front sind sachlich-nüchtern und faktenreich. Bei einem Thema, das alle betrifft und betroffen macht, wissen das viele zu schätzen.

Ein vor einigen Monaten hochgeladenes Video mit dem Titel „Die ukrainische Offensive ist gescheitert – Was ist zu erwarten“ auf dem Youtube-Kanal von Österreichs Bundesheer wurde fast 700.000 Mal aufgerufen, obwohl der Kanal selbst nur 200.000 Abonnenten hat. Die 5200 Kommentare klingen tendenziell so: „Das ist hochgradig professionell, glaubwürdig und aufschlussreich“, „Davon sollten sich die meisten Kollegen in den Medien eine Scheibe abschneiden“ oder auch „Dem Mann hört man sehr gerne zu“.

Gefühlt äußert sich der Militärhistoriker geradezu tagtäglich irgendwo, sei es auf N-tv, im ZDF oder in der „Welt“. Das Magazin „Cicero“ betitelte bereits im Sommer 2022 einen Artikel über ihn mit „Der Realist“. Reisner, hieß es da, sei „ein Youtube-Star geworden – ohne Schönfärberei und mit einer mahnenden Botschaft“.

„Wir haben uns die Lage in der Ukraine schöngeredet“, sagte Reisner Mitte April der „Zeit“. Im Interview mit T-Online nannte er das amerikanische Hilfspaket zuletzt „extrem wichtig“, bremste aber zugleich die Erwartungen. Das Momentum werde „bei den Russen bleiben“. Sie zu unterschätzen, wäre „ein schwerer Fehler“.

Gewagte Prognosen: Marcus Keupp

Wo Reisner eher vor vorschnellen Schlüssen warnt, lehnt sich Marcus Keupp gern auch mal weit aus dem Fenster. Das ist schon wiederholt schiefgegangen: Der 46-jährige Deutsche, Dozent an der  Militärakademie der ETH Zürich, hat sich mit seinen teils gewagten Voraussagen mehrfach gründlich geirrt. Gefragt ist er trotzdem auch weiterhin. Schließlich hat es seinen Reiz, wenn ein Experte scheinbar ganz genau zu wissen scheint, was die Zukunft bringt.

In der „Neuen Zürcher Zeitung“ legte sich Keupp im März 2023 fest: „Russland wird den Krieg im Oktober militärisch verloren haben.“ Wie der Militärökonom zu einer solchen Prognose kam? Er hat nachgerechnet, etwa vom Bestand an russischen Kampfpanzern, zu dem er sich gut informiert glaubt,  die geschätzten durchschnittlichen Verluste pro Tag abgezogen und daraus geschlussfolgert, wann die Vorräte aufgebraucht sind. Der „Technologieboost“ bei den Ukrainern durch modernes westliches Gerät komme noch dazu, so Keupp. Alles in allem sei „eigentlich gar kein anderer Verlauf denkbar als eine russische Niederlage“.

Doch auch wenn Keupp sagt, für ihn zählten nur „objektive Fakten“, drängt sich der Eindruck auf, dass die militärische Expertise durch seine Weltsicht gefärbt ist. Oft genug hat er betont, wie wichtig es ihm sei, auf der richtigen Seite zu stehen. Ein unvoreingenommener Blick auf die nackten Tatsachen sieht wohl anders aus.

Hochrangig und umstritten: Harald Kujat

Harald Kujat ist der wohl prominenteste Militärexperte in Deutschland, allein seine Vita verleiht ihm eine unbestrittene Autorität, bevor er überhaupt etwas gesagt hat. Der 82-Jährige war Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des Nato-Militärausschusses.

Kujat hat sich über viele Jahre einen Namen damit gemacht, den westlichen Umgang mit Russland zu kritisieren, und dafür geworben, dessen Sicherheitsinteressen in Rechnung zu stellen. Das hat ihm in Talkshows und bei Interviews auch viel Widerspruch eingetragen.

Gleichfalls umstritten sind seine Aussagen zur Lage in der Ukraine. Kujat hat das russische Vorgehen als völkerrechtswidrig verurteilt und er betont das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine. Doch auch westliche Waffenlieferungen könnten – „so bitter das für die Ukraine ist“ – nicht dazu beitragen, dass sie die Oberhand gewinne, sagte er kürzlich in einem Youtube-Interview. Es sei „nur eine Frage der Zeit, wann die Ukraine eine militärische Niederlage erleidet“. Der einzige Ausweg, so Kujat, bestehe in einem Waffenstillstand und Friedensverhandlungen.

Tino Künzel

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