Kälter, dunkler, teurer: Deutschland in Zeiten des abnehmenden Gases

Weil russisches Gas nicht mehr so fließt wie bisher, rüstet sich Deutschland für einen womöglich ungemütlichen Winter. Kein Tag vergeht ohne neue Energiespartipps und -initiativen. Eine Gasumlage soll Firmenpleiten verhindern. Wegen steigender Kosten schlagen Sozialverbände Alarm.

Deutschland ist im Energiesparmodus. (Foto: Tino Künzel)

Wenn Georgi Kartaschow schon einen deutschen Journalisten vor sich hat, dann hat er jetzt mal eine Frage. Der Familienvater aus St. Petersburg war mit Kind und Kegel bei der Taufe seines jüngsten Sohnes Artjom in einer Kirche. Nun interessiert ihn, ob es wirklich stimmt, was er gehört hat, dass den Deutschen nämlich ein harter Winter bevorsteht, sollte das russische Gas nicht so fließen wie bisher. Wie schlimm es wohl werden wird?

Auf die Frage gibt es natürlich keine einfache Antwort, außer der, dass es wohl zumindest nicht schlimmer werden kann, als es die deutsche Politik ohnehin prophezeit. Wäre zum Beispiel Vizekanzler Robert Habeck Chef einer russischen Behörde, so würde er das Volk mit so hypothetischen Problemen wahrscheinlich gar nicht behelligen. Oder höchstens versichern, es bestehe kein Grund zur Sorge, man habe alles im Griff.

„Größte Energiekrise in Deutschland“

Weil Habeck aber dem deutschen Wirtschaftsministerium vorsteht, läutet er seit Wochen die Alarmglocken, spricht von der „größten Energiekrise in Deutschland“ und ruft zu einer kollektiven Kraftanstrengung auf, um für den Erstfall vorzusorgen. Das ist sein Job. Habeck will sich auf gar keinen Fall nachsagen lassen, die Folgen unterschätzt, nicht eindringlich genug gewarnt und die Menschen nicht mitgenommen zu haben. Auch auf die Gefahr hin, dass die Diskus­sion oft genug reichlich übersteuert wirkt.

Seit Ende Juli lastet der russische Gaskonzern Gazprom die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 nur noch zu 20 Prozent aus. Warum das so ist, dafür machen sich Russland und Deutschland gegenseitig verantwortlich. Von politischen Motiven könne keine Rede sein, heißt es allenthalben auf russischer Seite. Kremlsprecher Dmitri Peskow beteuert laut Interfax, „Gazprom ist und bleibt ein zuverlässiger Garant bei der Erfüllung seiner Pflichten“. Für technische Probleme, verursacht durch Sanktionen, könne man nichts.

Wie in der Geisterbahn

Doch in Deutschland scheint es mit dem Vertrauen in Gazprom nicht mehr weit her zu sein. Selbst die Wirtschaft, die in der jüngeren Vergangenheit immer wieder für Verständigung geworben und die Sanktionspolitik kritisiert hatte, ist auf Distanz gegangen. Im „Handelsblatt“ sagte Peter Adrian, der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags, neulich, auch er selbst habe die Abhängigkeit von russischem Gas unterschätzt. Man sei „absolut blauäugig“ gewesen. Einen womöglichen vollständigen Gaslieferstopp verglich er mit einer Geisterbahn: Man wird zu Beginn der Fahrt erschreckt und denkt, das Schlimmste sei vorbei. „Doch dann folgen noch 25 weitere Momente des Schreckens.“

Die Gaspreise in Deutschland sind in den letzten Monaten geradezu explodiert. (Foto: Tino Künzel)

Dass dieser Worst Case eintritt, ist wohl eher unwahrscheinlich. Allerdings hat Gazprom gerade wieder eine dreitägige Abschaltung von Nord Stream 1 ab 31. August angekündigt. Als Grund wurden Wartungsarbeiten genannt. Zur Beruhigung der Gemüter tragen solche Meldungen kaum bei. Eher schon Nachrichen wie diese: Deutschlands Gasspeicher haben sich in den letzten Wochen zügig gefüllt. Aktuell liegt der Füllstand durchschnittlich bereits bei über 75 Prozent. Damit wurde eine Wegmarke vorfristig erreicht, die eigentlich erst für den 1. September angepeilt war. Bis 1. Oktober sollen es, so der ursprüngliche Plan, 85 Prozent und bis 1. November 95 Prozent sein, um für einen Winter mit allen Eventualitäten gerüstet zu sein.

Beim Duschen sparen (oder sich das Duschen sparen)

Nach amtlichen Angaben werden inzwischen nur noch 26 Prozent des Gasverbrauchs in Deutschland mit russischem Gas gedeckt. Im vergangenen Jahr waren es noch 55 Prozent. Dennoch fehlt es nicht an Appellen, auch Lebensgewohnheiten in Frage zu stellen und gegebenenfalls Abstriche am Wohlstand hinzunehmen, um Energie zu sparen. Nach einem „Gasgipfel“ in Baden-Württemberg sprach der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann Ende Juli im ZDF übers Duschen: „Wenn man zwei Minuten duscht statt elf, dann spart man 80 Prozent der Energie, die man fürs Duschen braucht, ein. Wenn das Millionen machen, hat das einen richtigen, messbaren, wichtigen Effekt.“ Jetzt komme es „wirklich auf jeden“ an. „So ist es immer in der Krise.“

Zuletzt ging Kretschmann nun noch einen Schritt weiter und meinte in der „Südwest Presse“, als Alternative zum Duschen sei auch der gute alte Waschlappen eine „brauchbare Erfindung“. Solche Anleitung zum Haushalten im Haushalt setzt schon mal Energien ganz anderer Art frei. „Wollen die Grünen uns das Duschen verbieten?“, empörte sich die „Bild“ in großen Lettern und zeigte Kretschmann & Co. in einer Collage bei der Katzenwäsche. Dazu wurde der nie um eine spitze Bemerkung verlegene FDP- und Bundestags-Vize Wolfgang Kubicki zitiert: „Wenn der Staat Vorgaben zur Körperpflege macht, dann haben wir ein Niveau erreicht, das schwerlich unterboten werden kann.“ Zuvor hatte Kubicki für seinen ketzerischen Vorschlag, Nord Stream 2 in Betrieb zu nehmen, Prügel einstecken müssen, aber sicher auch nichts anderes erwartet.

Kommunen reduzieren Verbrauch

Russische Medien und Telegram-Kanäle wiederum lassen es sich nicht nehmen, mit den Energiespartipps aus der deutschen Politik ihre Klientel zu belustigen. Das passt gut zum eigenen Narrativ, dass sich der Westen mit seiner Sanktionspolitik einmal mehr ins eigene Fleisch geschnitten hat. Und dass er nun mit allen möglichen Kopfständen versucht, Schadensbegrenzung zu betreiben.

In Deutschland vergeht derweil kein Tag, ohne dass Städte und Gemeinden den eigenen Energieverbrauch drosseln. Man werde „die Komfortzone verlassen müssen“, hatte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags, Helmut Dedy, zu entsprechenden Einschnitten aufgerufen. Klassiker sind die Absenkung der Wassertemperatur in Schwimmbädern um ein oder zwei Grad sowie der Raumtemperatur in öffentlichen Gebäuden wie Verwaltungen, Schulen oder Sporthallen, wo außerdem das warme Wasser abgestellt wird. Ebenfalls beliebt: der Verzicht auf die gewohnte nächtliche Illuminierung. So werden beispielsweise der Kölner Dom, die Berliner Siegessäule und die Dresdner Frauenkirche in der Dunkelheit nicht mehr angestrahlt.

Erste Kommunen haben schon „Wärmeräume“ für die kommende kalte Jahreszeit ins Auge gefasst. Angeblich kaufen Kunden auch bereits Baumarkt-Regale für Radiatoren, Heizlüfter und Öfen leergekauft. Der WDR berichtete von einem „Ansturm auf alles, was heizt“.

Gasumlage macht Rechnungen deutlich teurer

Oder ist das nur ein Hype, den die Medien selbst erschaffen haben? Bei den meisten Menschen ist die Krise nämlich noch gar nicht angekommen. Zwar werden rund 50 Prozent aller Wohnungen in Deutschland mit Gas beheizt, doch während der Vertragslaufzeit von zwei Jahren gilt eine Preisgarantie. Die massiven Tariferhöhungen bei Neuabschlüssen treffen Bestandskunden so erst mit Verzögerung.

Ab 1. Oktober werden allerdings alle Privat- wie auch Industriekunden zur Kasse gebeten. Eine sogenannte Gasumlage soll Gasimporteuren wie Uniper zugutekommen, die wegen der Beschaffung teurerer Alternativen zu russischem Gas Mehrkosten haben, die aber nur zum Teil an die Verbraucher weitergegeben werden können. Die Höhe der Umlage wurde zunächst auf 2,4 Cent pro Kilowattstunde festgelegt, sie gilt bis 1. April 2024 und kann alle drei Monate angepasst werden.

Im Gegenzug hat die Bundesregierung Entlastungen in Aussicht gestellt. Eine ist schon auf den Weg gebracht: Die Mehrwertsteuer auf den Gasverbrauch wird von 19 auf 7 Prozent gesenkt, was den Kostensprung durch die Gasumlage etwas abmildert. Bei einem Jahresverbrauch von 27.000 Kilowattstunden, wie er in einem durchschnittlichen Eigenheim anfällt, müssen sich Haushalte ab 1. Oktober aber dennoch auf eine Gasrechnung einstellen, die je nach Anbieter deutlich mehr als 30 Prozent über der bisherigen liegen kann.

Sozialgipfel gefordert

Dabei müssen die Deutschen angesichts einer Inflationsrate, die etwa im Juli bei 7,5 Prozent gegenüber demselben Monat des Vorjahres lag, ohnehin schon für vieles tiefer in die Tasche greifen. Das gilt auch für Lebensmittel, das heißt unabdingbare Ausgaben. Deshalb wurden die Warnungen vor sozialen Nöten zuletzt immer lauter. Mehrere große Sozialverbände und die Tafel Deutschland haben Bundeskanzler Olaf Scholz Mitte August aufgefordert, einen Sozialgipfel einzuberufen. In einem gemeinsamen Brief schreiben sie, in Deutschland hätten mittlerweile viele Menschen Angst vor der Zukunft. „Sie wissen nicht, wie sie die höheren Rechnungen für Strom, Gas und Öl bezahlen und wie sie durch Herbst und Winter kommen sollen.“

Nicht auszuschließen, dass die Protestbereitschaft in der Gesellschaft deutlich zunimmt. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa können sich 44 Prozent der Deutschen vorstellen, gegen steigende Energiepreise auf die Straße zu gehen.

Tino Künzel

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