Am nördlichen Polarkreis schafft es die Sonne in der dunklen Jahreszeit selbst in den Mittagsstunden kaum über den Horizont. Aber in Russlands Gashauptstadt Nowy Urengoi verheißt der Winter beste Bedingungen: Frostige Temperaturen bedeuten im hohen Norden des Riesenreiches viel Arbeit.
Mit Fellmützen machen sich die Ingenieure auf den schneebedeckten Weg. Allzu lange dürfen sie sich nicht in der klirrenden Kälte aufhalten. Ihr Ziel ist die Gasaufbereitungsanlage UKPG-31 von Achimgaz, einem Joint Venture des deutschen Gas- und Erdölförderers Wintershall aus Kassel und eines Tochterunternehmens des russischen Platzhirschs Gazprom.
Das deutsch-russische Unternehmen fördert seit seiner Gründung im Jahr 2003 aus der rund 4000 Meter tief liegenden und schwer zugänglichen Atschimow-Formation Erdgas, das deutsche Haushalte wärmt. Irgendwann soll das Gas auch durch die geplante Nord-Stream-2-Pipeline nach Europa gepumpt werden.
Täglich holen die Arbeiter rund 28 Millionen Kubikmeter Gas und 12.000 Tonnen Kondensat aus dem Permafrostboden. Damit könnte man nach Angaben von Achimgaz rund 15.000 deutsche Haushalte pro Jahr versorgen. „Das ist absolut einzigartig und rekordverdächtig“, sagt das deutsche Vorstandsmitglied Ingo Neubert vor dem schneebedeckten Bohrturm. Von politischen Querelen zwischen Moskau und dem Westen will man hier weit oben im Norden nichts wissen.
Das Gas aus der Nähe der Industriestadt Nowy Urengoi, rund 3000 Kilometer nordöstlich der russischen Hauptstadt, fließt bislang durch ein weit verzweigtes Netz nach Europa. Ein paar Kilometer nördlich des Polarkreises auf der Halbinsel Jamal liegt ein Großteil von Russlands Erdgasreserven. Über Nord Stream 2 soll das Gas auch nach Deutschland gelangen. Doch genau hier gibt es noch Probleme.
Obwohl der Bau der Pipeline bereits läuft, wird um sie weiter gestritten. Ende 2019 soll das erste Gas nach Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern fließen, doch noch immer stemmen sich die USA, die baltischen Staaten, Polen und auch die Ukraine gegen das Projekt. Seit der Annexion der Halbinsel Krim durch Russland und dem anschließendem Krieg in der Ostukraine sind die Beziehungen zwischen Moskau, Brüssel und Washington extrem angespannt. Auch Nord Stream 2 stand deshalb wiederholt in der Schusslinie.
Nach der jüngsten Eskalation Ende November in der Meerenge von Kertsch wurden Forderungen zum Einlenken auch in Deutschland wieder laut. So sprach sich die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock gegen das Projekt aus. Die Bundesregierung will es jedoch nicht zur Diskussion stellen. Auch der Russland-Chef von Wintershall, Thilo Wieland, plädiert: „Einseitige, voreilige Schritte sollten jetzt vermieden werden.“
73 Prozent der Bundesbürger halten den Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland durch die Ostsee für richtig. Das ergab eine Forsa-Umfrage im Auftrag der Mediengruppe RTL. Nur 16 Prozent der Befragten sprachen sich für einen Verzicht aus, besonders hoch ist der Anteil der Gegner bei AfD-Wählern. Die massive Kritik aus den USA an dem Projekt ist nach Auffassung einer breiten Mehrheit der Bevölkerung von wirtschaftlichem Eigennutz diktiert. Neun von zehn Teilnehmern der Umfrage zeigten sich überzeugt, dass es Washington um den Export von Flüssiggas nach Europa geht. Dass der US-Botschafter in Berlin, David Grenell, an Nord Stream 2 beteiligten Firmen sogar mit Sanktionen gedroht hatte, bewerten 91 Prozent der Deutschen kritisch. 77 Prozent empfinden das als Erpressung.
Die Gasförderung bei Achimgaz Tausende Kilometer von der Krim entfernt wird durch die Ukraine-Krise nicht beeinträchtigt. „Das alles sind bislang keine besorgniserregenden Entwicklungen für unser Projekt“, sagt Vize-Geschäftsführer Neubert. Achimgaz will noch 50 Jahre Gas aus der Erde holen. Insgesamt besitzt das Unternehmen 100 Bohrstellen; weitere Bohrflächen werden für eine andere deutsch-russische Kooperation in den angrenzenden Gasfeldern vorbereitet.
Der Winter eignet sich für die Bauarbeiten in besonderem Maße. Im Sommer gebe der tauende Permafrostboden zu schnell nach, was die Arbeiten deutlich erschwere, erklärt Chefingenieur Roman Lukowkin.
Im Achimgaz-Bürogebäude nahe den Bohrstellen hängen vor der Kantine drei tellergroße Uhren. Sie zeigen die Zeit an den für die Beschäftigten wichtigsten Orten an: in Moskau, Nowy Urengoi und Kassel. Din Kadajew, der die Anlage UKPG-31 leitet, blickt kritisch auf die Zeiger. Die drohende politische Eiszeit habe ihn aber bislang noch nicht aus der Ruhe gebracht, sagt der Russe. Die Arbeit laufe ja weiter. „Erst ab minus 40 Grad denken wir hier über einen Produktionsstopp nach.“ Denn dann könnte bei der Technik ein Stillstand drohen.
Claudia Thaler (dpa)