Kampf ums Korn: Darum gibt es trotz Rekordernte zu wenig Weizen

Die Landwirtschaft als wichtigster Zweig der russischen Wirtschaft schafft ihren Bestwert in der russischen Geschichte: 119,1 Millionen Tonnen gelbes Gold. Das meiste davon ist Weizen, der für einen Exportrekord sorgt. Trotzdem mangelt es seit Jahren an Qualität. Dem Abhilfe schaffen soll eine Herabsetzung der Standards.

In Schieflage: Trotz Rekordernte gewinnt Russlands Landwirtschaft keine Preise / Foto: Ria Nowosti

Landwirtschaftsminister zu sein, ist kein leichter Job in Zeiten von Sanktionen und Importersatzpolitik. Dies bewies die Entlassung von Nikolai Fjodorow im April 2015. Aufgrund von steigenden Lebensmittelpreisen und durch die von Sanktionen verursachten Versorgungsengpässe ernannte Wladimir Putin vor knapp zwei Jahren Alexander Tkatschow zum Nachfolger von Fjodorow und damit zum neuen starken Mann. Seine Mission: Die Probleme im „wichtigsten Zweig der russischen Wirtschaft“ zu lösen, heißt es in einer Regierungsmitteilung.

Auf den ersten Blick hat der Mann Erfolg: Mit satten 119,1 Millionen Tonnen Getreide fuhr Russland 2016 eine historische Rekordernte ein. Im Vorjahr waren es noch etwa 105 Millionen Tonnen. Damit überholte Russland die USA und sogar die gesamte EU.

Russland ist Weizenexportweltmeister

Von dem Rekordertrag sind über 70 Prozent Weizen: über 73 Millionen Tonnen. Diese sorgten für eine weitere Höchstmarke: 31,5 Millionen Tonnen wurden ins Ausland verkauft – Russland wurde zum Exportweltmeister. Die aktuelle Statistik bestätigt den Trend: Nach Informationen vom Agrartransportunternehmen Rusagrotrans fiel der Getreideexport in der ersten Februarhälfte mit 1,5 Prozent zwar leicht im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.

Ein genauerer Blick auf die Zahlen zeigt jedoch, dass die Weizenexporte mit 2,8 Prozent leicht ansteigen. Damit bewies Tkatschow, dass sich die Landwirtschaft als wichtigster Wirtschaftszweig trotz Sanktionsspirale auf dem aufsteigenden Ast befindet.

Quantität statt Qualität

Tkatschow zu gratulieren, wäre allerdings zu voreilig. Denn der quantitative Doppelrekord geht auf Kosten der Qualität. Von den 73 Millionen Tonnen Weizen sind laut Mühlen- und Unternehmerverband nämlich nur ganze 18 Prozent für die Nahrungsmittelproduktion geeignet. Dies entspricht etwa 13 Millionen Tonnen.

Dabei leidet der russische Weizen seit Jahren unter einem konstanten Qualitätsverfall. Dies belegt die Statistik des Zentrums für Sicherheits- und Qualitätskontrolle von Getreide. Der Behörde zufolge nahm der Anteil der unteren Klassen in den letzten fünf Jahren erheblich zu: Der Anteil von viertklassigem Weizen stieg von 44 Prozent 2012 auf 59 Prozent 2016. Der von fünftklassigem wuchs von 19 auf 24 Prozent.

Zusammen machen die beiden Güteklassen nunmehr 53 Millionen Tonnen aus – dies entspricht 73 Prozent. Der neue Luxus ist das Korn dritter Klasse: Während der Anteil 2012 noch etwas der Hälfte entsprach, waren es 2016 nur noch knapp 17 Prozent. Die höheren Klassen werden immer seltener: Weizen zweiter Güteklasse wurde zuletzt 2015 geerntet – die erste Klasse gar vor fünf Jahren.

Trotz Bestmarke: Weizen ist Mangelware

Die Mühlenindustrie zeigt sich ernsthaft besorgt über das Qualitätsdefizit. Insgesamt fehlen über zwölf Millionen Tonnen Getreide dritter Güte – diese  sei das Minimum für die Weiterverarbeitung zu Mehl. Untere Kategorien seien zwar ertragsreicher – eignen sich aber allenfalls zur Alkoholproduktion oder als Tierfutter.

Ein Großteil des besten Korns ginge auch noch ins Ausland. Dem russischen Bäckerverband zufolge wurden von den 18 Millionen Tonnen Weizen dritter Qualitätsklasse sieben Millionen Tonnen für das Saatgut für die nächste Saison verwendet – drei Millionen Tonnen wurden exportiert. Somit bleiben nur ein wenig mehr als sieben Millionen Tonnen für die russischen Müller und Bäcker übrig. Das würde längst nicht für alle reichen.

Lösung: Herabsetzung der Standards

Nach den Worten des Vorsitzenden des Mühlenverbandes, Arkadij Gurewitsch, ist der Qualitätsverlust keine Neuheit. Wie er auf der 12. Müllertagung Ende September 2016 erklärte, fällt die Getreidequalität von Jahr zu Jahr. Mittlerweile ist das Problem auch bei den Müllern angekommen. „Womit werden wir Weizen der dritten Klasse ersetzen?  Mit Weizen unterer Kategorien. Das steht zur Diskussion – darf man es oder nicht?“, so Gurewitsch. Ein neuer Regierungsstandard soll die Nutzung von Futterweizen, also Weizen fünfter Klasse, zur Weiterverarbeitung zu Mehl ermöglichen.

Dass sich daran in naher Zukunft etwas ändert, ist zu bezweifeln. Landwirtschaftsminister Tkatschow versprach Ende Februar gegenüber der Nachrichtenagentur Tass eine Ernte von 105 bis 110 Millionen Tonnen für das laufende Kalenderjahr – mindestens. Darüber hinaus sei eine Erhöhung der Bestmarke auf 130 bis 150 Millionen Tonnen Getreide das Ziel. 

Statt einer neuen Rekordernte bedarf es wohl einer Neuordnung der Regierungsprioritäten und neue Anreize für die Bauern. Platz gäbe es ohnehin keinen: Laut dem Vorsitzenden des russischen Getreideverbandes, Arkadij Slotschewskij,  können die Getreidesilos landesweit nur maximal 120 Millionen Tonnen Getreide fassen. Der Stauraum reiche also nicht für Tkatschows ehrgeizige Pläne.

Christopher Braemer

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