Das Randgebiet Belgorod – plötzlich Zielscheibe

Während die meisten Russen das, was sich an der Ukraine-Front tut, nur aus dem Fernsehen, aus Talkshows und den Abendnachrichten kennen, ist es für die Bewohner der Region Belgorod zunehmend Alltag. Denn die Frontlinie verläuft – eine Nebenwirkung der „Sonderoperation“ – immer mehr durch ihre Wohngebiete, Straßen und Gärten.

Auf diesem Foto, das Russlands Verteidigungsministerium verbreitete, sollen schwer mitgenommene Fahrzeuge von getöteten oder in die Flucht getriebenen „Diversanten“ zu sehen sein. (Foto: Russisches Verteidigungsministerium)

Die russische Region Belgorod lag gefühlt immer weit ab vom Schuss. Ein ländlich geprägtes Fleckchen an der Grenze zur Ukraine, wo selten etwas passierte, was überregional für Aufsehen gesorgt hätte. Doch nun ist Belgorod fast schon täglich in den Nachrichten. Explosionen, zerstörte Häuser und Autos, Evakuierungen, Tote und Verletzte – aus einem Randgebiet ist Belgorod in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt.

Lange Grenze zur Ukraine

Die Region südlich von Moskau grenzt auf ungefähr 500 Kilometern an die Ukraine. Das könnte ein toller Standortvorteil sein, vielleicht war er das auch mal und wird es wieder. Aber unter den heutigen Vorzeichen bedeutet es, dass den Bewohnern praktisch zu jeder Tag- und Nachtzeit ein Geschoss um die Ohren fliegen kann. Denn längst schlägt das Pendel in ihre Richtung aus, wie auch in Richtung der benachbarten Kurs­ker und Brjansker Region. Wenn ukrainische Drohnen es sogar bis zum Moskauer Kreml schaffen, welche Sicherheiten kann es dann in Belgorod noch geben?

1,5 Millionen Menschen leben in diesem Grenzgebiet, etwa ein Viertel davon ist in der Regionalhauptstadt Belgorod zu Hause. Die ist nur 70 Kilometer vom ukrainischen Charkow entfernt. Unruhiger waren die Zeiten in dieser Gegend selten. Hier eine kleine Auswahl der jüngsten Ereignisse.

Terroralarm, Bombeneinschläge, Feierabsage

– Schwer bewaffnete Mitglieder zweier ukrainischer Freiwilligenkorps drangen mit gepanzerten Fahrzeugen auf russisches Gebiet vor, verwüsteten einen Grenzübergang und töteten zwei Grenzer. Bei den Angreifern soll es sich um bis zu 150 Männer gehandelt haben, die im Verlaufe des Tages weitere Ortschaften attackierten und nach Angaben eines Kreisvorsitzenden mindestens 500 Häuser beschädigten. Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow sprach von zwölf Verletzten. In der Region wurde Terroralarm ausgerufen und die Evakuierung von neun Dörfern angestrengt.

Es vergingen 30 Stunden, bis das russische Verteidigungsministerium über seinen Sprecher Igor Konaschenkow mitteilte, man habe die Gruppe „blockiert und zerschlagen“. Dabei seien „mehr als 70 ukrainische Terroristen“, vier gepanzerte Fahrzeuge und fünf Geländewagen „vernichtet“ worden. Auf Fotos, die das Verteidigungsministerium verbreitete, waren auch US-Panzerfahrzeuge zu sehen.

– Russische Telegram-Kanäle berichteten von Drohnenangriffen auf das Gebäude des FSB in Belgorod, auch das Polizeigebäude könne Ziel gewesen sein. Es habe eine Explosion gegeben.

– Bei Drohnenabwurf eines Sprengsatzes auf eine Straße in Belgorod wurde ein Pkw zerstört.

– Die traditionellen Feiern der Schulabgänger („Das letzte Klingeln“) wurden in der Region Belgorod abgesagt. Zuvor war aus Sicherheitsgründen bereits auf die Festveranstaltungen zum 9. Mai verzichtet worden.

– Ein Dorfbewohner verlor ein Bein, als er sich nachts zum Angeln begab und 300 Meter von der Grenze auf eine Mine trat.

– Mitten in einem Wohngebiet von Belgorod landete eine Bombe im Feierabendverkehr. Wie durch ein Wunder gab es keine Opfer zu beklagen. Ein geparktes Auto wurde durch die Wucht der Explosion auf das Dach eines angrenzenden Hauses geschleudert. Auf der Straße bildete sich ein riesiger Krater. Bald stellte sich heraus, dass sich die Bombe von einem russischen Jagdflugzeug des Typs Su-34 gelöst hatte.

– Eine zweite versehentlich abgeworfene Bombe wurde später geborgen. Zuvor waren die Bewohner des Viertels vorsichtshalber evakuiert worden.

Tino Künzel

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