Wiederentdeckt: Das Epos von der Wolga

Stalin verhinderte die Veröffentlichung und machte ihn damit zur Legende: „Wir selbst“ von Gerhard Sawatzky gilt als wahrscheinlich wichtigster Roman der Russlanddeutschen. Der Germanist Carsten Gansel hat den lange verschollen geglaubten Roman nun in Moskau aufgespürt.

„Ich glaube, dass es wichtig ist, einen solchen entscheidenden Text dem deutschen Publikum zu präsentieren und ihn öffentlich zu machen“, erklärt Carsten Gansel. (Foto: Uni Gießen)

Schon wieder eine Missernte, kein einziger Bissen Brot und nichts als bohrender Hunger: Die Geschichten, die Friedrich Kempel auf einem Wolgadampfer Anfang der 1920er Jahre hört, klingen verstörend. „Viele sind tot gehungert“, erzählen Mitreisende dem ausgemusterten Soldaten, der nach mehreren Jahren im russischen Bürgerkrieg auf dem Weg in sein Heimatdorf ist. „Einige sind wahnsinnig geworden, haben ihre Kinder geschlachtet. Die Menschen essen verschiedene Wurzeln, Gras, Baumrinde.“ Kempel ist wie gelähmt. Ob seine Familie überhaupt noch am Leben ist?

Eine Republik in einem Buch

Die verstörenden Bilder stammen aus Gerhard Sawatzkys mythenumrankten Roman „Wir selbst“. Das lange verschollen geglaubte Monumentalwerk erzählt auf fast 900  Seiten von einer längst untergegangenen Welt: Der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen, die von 1918 bis zu Hitlers Überfall auf die Sowjetunion 1941 existierte. Tausende Russlanddeutsche hatten dem Erscheinen des Buches seinerzeit entgegengefiebert, bereits vorab veröffentlichte Auszüge heizten die Neugier ordentlich an. Doch dann wurde Sawatzsky im November 1938 verhaftet, sein Buch verboten und das schon druckfertige Manuskript vernichtet. Sechs Jahre später ging der Autor in einem Gulag bei Solikamsk elend zugrunde. Seither galt das Epos als verloren. „Er gilt als der wichtigste Roman der Russlanddeutschen“, erklärt der Germanist Carsten Gansel, der das Urmanuskript nach 80 Jahren nun in Moskau aufgespürt hat. „Wir bekommen hier die Geschichte der wolgadeutschen Republik, der Hoffnungen, Wünsche und Träume und Rückschläge von zwei Generationen präsentiert“, begeistert sich der Gießener Professor für Neuere Deutsche Literatur für seinen Fund. „Ich glaube, dass es wichtig ist, einen solchen entscheidenden Text dem deutschen Publikum zu präsentieren und ihn öffentlich zu machen.“

Literat und Schaltzentrale

Der in Deutschland weitgehend unbekannte Gerhard Sawatzky galt als wichtigster Literat der Wolgadeutschen Republik. Er wurde 1901 in einer schwarzmeerdeutschen Bauernfamilie in der Ukraine geboren und kam nach einem Studium im damaligen Leningrad als Lehrer in das Wolgagebiet. Schnell wechselte der literaturbegeisterte junge Mann in den Journalismus – und legte anschließend als Schriftsteller eine schwindelerregende Karriere hin. So wurde Sawatzky Vorsitzender des Schriftstellerverbandes der Republik und Herausgeber der russlanddeutschen Literaturzeitschrift „Der Kämpfer“. In dieser publizierten auch kommunistische Autoren wie Willi Bredel, Friedrich Wolf und Johannes R. Becher während ihres Exils in der Sowjetunion. „Für die deutschen Autoren war dieser Mann eine Schaltzentrale“, erklärt Carsten Gansel.

Die Spur führt nach Moskau

Auf die Spur des verschütteten Manuskriptes kam der Literaturwissenschaftler durch Hugo Wormsbecher, den er bei Recherchen 2013 in Moskau kennenlernte. Der russlanddeutsche Schriftsteller veröffentlichte Mitte der 1980er Jahre eine zensierte und gekürzte Version des Textes im Almanach „Heimatliche Weiten“. Was Wormsbecher erst nach einer längeren Phase des Kennenlernens verriet: Er besaß das Urmanuskript, das die Witwe Sawatzkys wie ein Wunder durch die Jahre des Stalinschen Terrors gerettet hatte. Das nun im März erschienene Buch geht auf Kopien der Schrift zurück.


Literarisch habe „Wir selbst“ einiges zu bieten, erklärt Carsten Gansel. So lasse Sawatzky reiche Großbauern und enteignete Fabrikbesitzer ihre Sicht auf Revolution, Industrialisierung und Kollektivierung schildern ohne kommentierend einzugreifen. „Das war nicht unbedingt typisch für die damalige sowjetische Literatur“, sagt Gansel. „Das hätte man eigentlich als antisow­jetisch bezeichnet!“ An offene Kritik oder einer Verurteilung von Stalins Politik wagte sich Sawatzky gleichwohl nicht. Vielmehr habe diesem beim Schreiben oft die nackte Angst im Nacken gesessen. „Im Manuskript gibt es eine Vielzahl von Streichungen“, verdeutlicht Carsten Gansel. „Das ist eine Form von Selbstzensur.“ In der Neuveröffentlichung erscheinen diese Passagen nun erstmals ungekürzt.

Birger Schütz

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