Von kosmisch bis ritterlich: Sieben Kulturgroßereignisse von 2023

Auch in diesem Jahr haben zahlreiche namhafte und weniger namhafte Künstler Russland verlassen oder sind ins Abseits geraten. Doch abgesehen von den Dramen hinter den Kulissen des kulturellen Lebens: Welche Highlights gab es 2023 aus Zuschauer­sicht? Die MDZ hat sieben ganz besondere Kulturereignisse zusammengestellt.

Schauspielerin Julia Peressild kurz vor dem Start zu ihrem Weltraumdreh für den Film „Wysow“ im Oktober 2021 (Foto: Ramil Sitdikow/RIA Novosti)

Patient Zero

Die Dramaserie „Patient Zero“ (Nulewoj patient) hatte ihre Online-Premiere bereits im Frühjahr 2022, wurde jedoch Anfang dieses Jahres vom reichweitenstarken „Ersten Kanal“ auch im Fernsehen ausgestrahlt und zudem mehrfach ausgezeichnet. Ihre Handlung folgt einer historischen Tatsache: 1988 kam es im südrussischen Kalmückien zur ersten Masseninfektion mit HIV in der Sowjetunion.

In den sieben Folgen der Serie kämpfen zwei Männer – ein Kinderarzt aus Elista und ein Epidemiologe aus Moskau – nicht nur gegen die tödliche Gefahr, sondern auch gegen die sowjetische Nomenklatur, für die es HIV nur in der „kapitalistischen Welt“ geben kann. Die filmische Aufbereitung eines so komplexen Themas kam beim Publikum gut an, erzielte hohe Einschaltquoten und erreichte bei der Online-Filmdatenbank Kinopoisk ein Rating von 8.4.

Filmkritiker lobten die Serie dafür, dass sie Probleme wie die Isolation und Stigmatisierung infizierter Menschen, die Nachlässigkeit und den mangelnden Humanismus des staatlichen Systems sowie die geringe medizinische Bildung anspricht. Einige merkten an, dass der Ausbruch des Virus und der Versuch des Staates, ihn zu vertuschen, als Metapher für den Zusammenbruch des gesamten sowjetischen Systems dienten.

Weltraum-Epos

Einer der meistbesprochenen Filme des Jahres war das russische Drama „Die Herausforderung“ (Wysow). Als erster abendfüllender Spielfilm der Welt wurde er teilweise im All gedreht: Regisseur Klim Schipenko und Hauptdarstellerin Julia Peressild flogen dafür zur Internationalen Raumstation ISS. An den zwölf Drehtagen wurden sie von den Kosmonauten Oleg Nowizki und Pjotr Dubrow unterstützt, die sich bereits auf der ISS befanden, als die Filmcrew eintraf.

Premiere hatte der fast drei Stunden lange Film im April dieses Jahres. Sein Budget wird mit etwa einer Milliarde Rubel angegeben. Die Einnahmen an den Kinokassen sollen mehr als doppelt so hoch gewesen sein.

Nach den Worten von Konstantin Ernst, Chef des „Ersten Kanals“ und einer der Produzenten von „Die Herausforderung“, soll der Film Russlands Führungsrolle in der Raumfahrt unterstreichen. Die Reaktionen fielen gemischt aus. Während die einen den Weltraum-Dreh als Erfolg bewerteten, sahen andere darin vor allem einen teuren PR-Trick.

Pariser Salons

Mit Spannung erwartet und wahrlich originell: Mit „Die Salons von Denis Diderot. Ausstellungen der modernen Kunst im Paris des 18.  Jahrhunderts“ landete das Moskauer Puschkin-Museum einen Volltreffer. Die von mehreren russischen Museen erstellte Exposition lief von Juni bis Oktober und stieß auf ein breites Echo. Nach den begeisterten Stimmen im Internet zu urteilen, haben manche Kunstliebhaber sie sogar mehrfach besucht.

Die Veranstalter versetzen die Ausstellungsgäste ins 18. Jahrhundert, als in den französischen Salons die Gegenwartskunst jener Zeit gezeigt wurde. Zu sehen sind nicht nur Gemälde, sondern auch Skulpturen, Grafiken und Numismatik – das ganze Panorama der französischen Kunst vom entstehenden Rokoko bis zum Neoklassizismus.

Besucher können die herausragenden Werke jener Epoche mit den Augen eines der wichtigsten Philosophen und Kritiker der Aufklärung betrachten, sein Arbeitszimmer besichtigen und Bücher aus Diderots Bibliothek ansehen. Zarin Kaiserin Katharina die Große, die eine Korrespondenz mit ihm pflegte, hat sie gekauft.

Inzwischen ist die Ausstellung nach St. Petersburg weitergezogen und wurde dort Anfang Dezember in der Eremitage eröffnet. Die Atmosphäre der Pariser Salons ist dort noch bis Mitte März 2024 zu erleben.

Richard-Wagner-Monat

In diesem Jahr feierte die Musikwelt den 210. Geburtstag von Richard Wagner – und das St. Petersburger Mariinski-Theater feierte mit. Im Rahmen eines Wagner-Monats im Juli und August hatte „Die Meistersinger von Nürnberg“ Premiere. Damit wagte sich das Mariinski-Theater als erstes in Russland an dieses höchst komplexe Wagner-Werk. Die Vorbereitungen dauerten mehrere Monate, wobei das Unterfangen durch den Aufstand der Wagner-Gruppe Ende Juni fast im letzten Moment zu scheitern drohte. Anfang Juli gab es Medienberichte über eine mögliche Verschiebung oder gar Absage – offenbar aus Angst vor falschen Assoziationen.

Dennoch fanden alle geplanten Aufführungen statt. Neben den „Meistersingern“ war die legendäre Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ zu sehen und hören, die mit alternativen Beleuchtungslösungen und Videokulissen auf den neuesten Stand gebracht wurde. Mit „Tristan und Isolde“, „Tannhäuser“ und „Parsifal“ standen auch weitere berühmte Opern des großen deutschen Komponisten auf dem Programm.

Waleri Gergijew, einer der weltweit brillantesten Interpreten von Wagners Musik, dirigierte die Mehrzahl der Aufführungen – der Saal war erwartungsgemäß voll. Nun erwarten viele Theaterexperten, dass Wagners Tetralogie auch ins Bolschoi-Theater kommt.

Rock in Sibirien

Das erste sibirische Rock-Festival wurde 2022 noch abgesagt, doch im August dieses Jahres fand „Wind von Sibirien“ nun statt. Das dreitätige Open-Air-Festival lockte viele Fans des russischen Rocks auf einen Flugplatz bei Nowosibirsk. Für die Besucher war eigens ein Zeltlager aufgebaut worden. Sie reisten aus verschiedenen sibirischen Regionen an, vor dem Eingang bildete sich eine lange Schlange.

Auf zwei Bühnen traten 42 Bands aus Russland und Kasachstan auf. Doch nicht nur deshalb wurde die Ausdauer des Publikums auf die Probe gestellt. An zwei von drei Tagen regnete es in Strömen. Immer wieder gab es Probleme mit der Akustik. Es fehlten Tribünen, für die teure Eintrittskarten gekauft worden waren. Und eine angekündigte Band blieb der Veranstaltung gleich ganz fern. Doch trotz aller Widrigkeiten zogen die meisten ein positives Fazit. Und für zwei Paare blieb das Festival sowieso unvergesslich: Sie ließen sich auf der Bühne trauen. 

Zu Fuß und Pferd

So sieht es aus, wenn sich in Moskau Ritter duellieren. (Foto: Filipp Fomitschow)

Seit 2020 hatte das St.-Georgs-Turnier pausiert. Im September war es aber wieder so weit: Eines von drei absolut authentischen Ritterturnieren weltweit wurde erneut in Moskau ausgetragen. Bei den mittelalterlichen Duellen kamen Kampflanzen mit Metallspitzen zum Einsatz, die problemlos Stahlrüstungen durchbohren können.

Im Foyer traten Gaukler und Akrobaten auf, im ersten Stockwerk bekämpften sich Fußsoldaten, im dritten liefen Wachen, Nonnen und ein Pestdoktor umher. Außerdem wurde das Schreiben von Frakturschrift gelehrt, das Kochen von Speisen im Mittelalter gezeigt und über mittelalterliche Brettspiele berichtet.

Die Kämpfe fanden in diesem Jahr zu Fuß mit Schwertern und Lanzen statt, zum Abschluss gab es dann ein großes Ritterturnier zu Pferd. Die Teilnehmer traten in den spektakulärsten Disziplinen gegeneinander an: Lanzenstechen (Speerkampf zu Pferd), Mêlée (Gruppenkampf zu Pferd mit Holzkeulen Mannschaft gegen Mannschaft) sowie in einer historischen mittelalterlichen Schlacht zu Fuß. Dem Turnier wohnte auch ein Hofstaat von Damen bei, die den Rittern Aufmerksamkeiten schenkten und ihnen die Möglichkeit gaben, einen Extrapunkt dadurch zu verdienen, dass sie einen Kranz auf ihre Lanze setzten.

Unter den Teilnehmern des diesjährigen zweitägigen St.-Georgs-Turniers befanden sich trotz aller Schwierigkeiten auch Vertreter aus Westeuropa: Zwei Ritter aus Frankreich zeigten auf russischem Boden ihr Können. Den Sieg trug aber Pawel Kalinkow aus der belarussischen Hauptstadt Minsk davon, der schon seit 18 Jahren ein zweites Leben als Ritter führt. Er gehört damit zu den weltweit erfahrensten Teilnehmern an Ritterturnieren.

Die Veranstaltung erfreut sich großer Beliebtheit bei Geschichtsinteressierten. In diesem Jahr wurde das Turnier von etwa 7000 Menschen besucht.

Surikow in XXL

Ilja Repin malte den Kollegen Wassili Surikow 1877.

Das Russische Museum in St.  Petersburg hat seit 1. Dezember einen absoluten Publikumsmagneten zu bieten: Es widmet dem berühmten russischen Maler Wassili Surikow eine eigene, vollständige Ausstellung. Das hatte es zuletzt 1937 gegeben. Damals wurden aber zahlreiche Gemälde des Meisters zu religiösen Themen nicht gezeigt. Heute ist diesen einzigartigen Werken ein ganzer Saal gewidmet. Dort sind zum ersten Mal auch Skizzen für vier Fresken zu Themen der Ökumenischen Konzilien zu sehen, die Surikow für die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau schuf und die durch die Sprengung des Gotteshauses 1931 unwiederbringlich verloren gingen.

Zum 175. Geburtstag des Malers sind im Russischen Museum mehr als 120 seiner Gemälde ausgestellt. Etwa 40 davon wurden vorübergehend aus den Sammlungen der Tretjakow-Galerie zur Verfügung gestellt, ebenso wie Exponate aus dem Kunstmuseum von Krasnojarsk – Surikows Heimatstadt – und von privaten Sammlern. Den Kern der Ausstellung bilden die berühmtesten Werke wie „Einnahme der Schneestadt“, „Die Bojarin Morosowa“, „Jermaks Eroberung Sibiriens“, „Die Alpenüberquerung Suworows“ und „Stepan Rasin“.

Ergänzt wird die Schau durch Exponate der Volks- und angewandten Kunst aus der Sammlung des Russischen Museums sowie durch ein innovatives Multimedia-Programm. Die Besucher können den Prozess der Restaurierung von Surikows Werken im Detail verfolgen. Für Kinder wurde ein Spiel entwickelt, das auf dem Gemälde „Einnahme der Schneestadt“ basiert.

Filipp Fomitschow

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: