Meisterwerk in Bestform auf der Berlinale

Sieben Spielfilme hat Andrej Tarkowski zwischen 1962 und 1986 gedreht. „Offret“ (Opfer) entstand kurz vor seinem Tod mit nur 54 Jahren. Jetzt erlebt dieser preisgekrönte Film eine zweite Weltpremiere. Bei den 74. Internationalen Filmfestspielen Berlin läuft er im Rahmen der „Berlinale Classics“ in einer restaurierten Fassung.

In „Offret/Opfer“ ist von einem Tag auf den anderen nichts mehr, wie es war. (Foto: Filmszene)

Die Berlinale findet diesmal vom 15. bis 25. Februar statt. Schon traditionell gehören auch die „Berlinale Classics“ zu den Sektionen des Festivals. In diesem Jahr präsentieren Rainer Rother, der künstlerische Direktor der Deutschen Kinemathek, und sein Team dem Publikum zehn Meisterwerke aus den Jahren 1920 bis 2005. Alle werden sie erstmals in restaurierter und digitalisierter Fassung gezeigt.

So kehrt 70 Jahre nach seiner Erstaufführung der Filmklassiker „Godzilla“ von Ishiro Honda auf die große Leinwand zurück. Auch John Schlesingers „Der Tag der Heuschrecke“, „Battle in Heaven“ von Carlos Reygadas und der Gewinner des „Goldenen Bären“ 1981, „Los, Tempo!“ von Carlos Saura, sind zu sehen.

Ernst Lubitsch (1892–1947) ist sogar zweimal vertreten – mit seinem Stummfilm „Kohlhiesels Töchter“ und seinem ersten Tonfilm „Liebesparade“. Ein weiterer deutscher Film, der die Zuschauer überraschen wird, ist „Reifezeit“ von Sohrab Shahid Saless. Besondere Aufmerksamkeit verdient „Die Zeit nach Mitternacht“ von US-Erfolgsregisseur Martin Scorsese, der bei der Berlinale mit einem „Goldenen Ehrenbären“ für sein Lebenswerk ausgezeichnet wird.

Der letzte Film von Tarkowski

Und dann wäre da noch „Offret“ (Opfer) von Andrej Tarkowski, eine schwedisch-britisch-französische Koproduktion aus dem Jahre 1986. Für die 4K-Restaurierung des Films zeichnete das Svenska Filminstitutet verantwortlich.

Tarkowski nimmt in der Welt der Kinematografie einen besonderen Platz ein. Er ist wohl der einzige Regisseur aus dem sowjetischen Raum, der auch im Ausland überall bekannt und geschätzt ist. Gleich sein Debüt-Spielfilm „Iwans Kindheit“ von 1962 begeisterte die Kritiker und erhielt den „Goldenen Löwen“ bei den Filmfestspielen von Venedig.

In den darauffolgenden 24 Jahren bis zu seinem Tod 1986 drehte Tarkowski noch sechs weitere Filme. „Offret“ war sein letzter. Die Dreharbeiten standen bereits im Zeichen der schweren Krankheit des Regisseurs. Kein Wunder, dass viele Zuschauer und Experten in dem Film eine Art Vermächtnis sehen. Das Werk wurde bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes unter anderem mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. Der Filmemacher konnte an der Ehrung nicht persönlich teilnehmen, er starb wenige Monate später in Paris an Krebs.

Die unheimliche Gefahr

„Offret“ erzählt von wenigen Tagen im Leben einer bürgerlichen Familie, in deren gewohnten Alltag plötzlich apokalyptische Ereignisse platzen: Das Fernsehen berichtet von einer heraufziehenden atomaren Katastrophe. In einem verzweifelten Versuch, den Frieden zu retten und die Normalität wieder herzustellen, ist Hauptheld Alexander bereit, alles zu opfern, was ihm lieb und teuer ist.

Gedreht wurde auf der schwedischen Insel Gotland in schwedischer Sprache. Tarkowski lebte damals bereits einige Jahr im Ausland. Von den Dreharbeiten zu „Nostalghia“ in Italien war er nicht in die Sowjetunion zurückgekehrt. Für viele, die das Phänomen Tarkowski zu entschlüsseln versuchen, hat er in „Offret“ in die Zukunft geblickt und die Gefahr eines Atomkriegs vorweggenommen sowie zur Opferbereitschaft um der Bewahrung des Friedens willen aufgerufen.

Anastassia Kusina, Filmjournalistin

Es heißt, dass man Künstler in Propheten und Visionäre unterteilen kann. Die einen sagen etwas voraus, was in vielen Jahren eintritt, die anderen sehen etwas kommen, was die unmittelbare Zukunft betrifft. Tarkowski zählt zu den Letzteren. „Offret“ handelt vom drohenden Untergang der Welt in der Folge eines Atomkriegs. Der Hauptheld beschließt, die Welt zu retten, indem er sich selbst opfert. Damit behandelt der Film ein verstörendes Thema, das uns auch heute angeht. Er ist nicht weniger aktuell als „Oppenheimer“ von Christopher Nolan.

Von Tarkowski stammt der Satz, dass der Film und das Kino die Zeit fixieren. Er hat die Zeit Ende der 1980er Jahre festgehalten. Der Abschluss der Dreharbeiten an „Offret“ fiel mit der Tragödie im Atomkraftwerk Tschernobyl zusammen. Tarkowskis letzte beide Filme entstanden bereits in Europa – „Nostalghia“ in Italien und „Offret“ in Schweden. Ungeachtet dessen, dass sein Schaffen in der Sowjetunion Beschränkungen und Kontrolle unterlag: Vielleicht hätte er noch mehr gedreht, wäre er in Russland geblieben.

Sämtliche Filme dieses Meisters gehören längst zu den wahren Schätzen der Kinematografie. Mehr noch, viele heutige Autoren zitieren daraus bis heute. So greift Lars von Trier in „Melancholia“ und „Antichrist“ einige Handlungsstränge von „Offret“ auf und reinterpretiert sie auf seine Art.

Fragt man einen beliebigen gestandenen Filmkritiker nach den bedeutendsten Regisseuren der Sowjetzeit, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit die Namen Eisenstein und Tarkowski fallen. Wobei Ersterer wohl vor allem als Lehrstoff bekannt ist, während man sich das Werk des Letzteren selbstständig erschlossen und dabei Begeisterung und Bewunderung empfunden hat.

Rainer Rother, Sektionsleiter „­Berlinale Classics“

Wir haben „Offret/Opfer“ für die diesjährigen „Berlinale Classics“ ausgewählt, weil wir von der Geschichte fasziniert waren, die Kamermann Sven Nykvist so brillant eingefangen hat. In poetischen Bildern und einem philosophisch-religiösen Dialog trifft sich der schonungslose Blick auf das Leben des Protagonisten mit einem starken Plädoyer für Selbstreflexion und Selbstbegrenzung. Außerdem war die Auswahlkommission beeindruckt von der herausragenden Qualität der Restaurierung. Sie bewahrt insbesondere die meisterhafte Lichtsetzung und Farbdramaturgie mitsamt ihren Sepia- und Schwarz-Weiß-Passagen. Wir sind begeistert, das Schaffen von Andrej Tarkowski würdigen zu können, indem wir seinen letzten Film auf der Berlinale präsentieren.

Annika Haupts, Prog­ramm­koor­dinatorin

Die „Berlinale Classics“ gibt es seit 2013. Sie funktionieren so, dass im Herbst die Filme eingereicht werden und wir dann schauen, welche zehn wählt man von den 60 Vorschlägen aus, die es beispielsweise für dieses Jahr waren? Welches Programm stellt man daraus zusammen, sodass vielleicht für jeden etwas dabei ist, aber man eventuell auch Bezüge zwischen den Filmen herstellt?

Als wir „Offret“ bekommen haben, war das direkt ein Titel für die Shortlist. Denn einen so großen Regisseur, einen der wichtigsten Filmemacher überhaupt mit einer 4K-Restaurierung neu und wiederzuentdecken, ist natürlich sehr spannend. Die langsamen Einstellungen und die langen Monologe, die den Film ausmachen, haben etwas Hypnotisierendes, man wird förmlich in die Handlung hineingezogen. Dazu ist die Restaurierung von den Kollegen aus dem Schwedischen Filminstitut wirklich fantastisch. Sie bringt die grandiose Kameraarbeit und die farbliche Mythologie so richtig zum Ausdruck. Der Film sieht toll aus, das muss man einfach so anerkennend sagen. Und das war natürlich auch ein Kriterium für uns.

Tarkowski hat eine unvergleichliche Handschrift. Er ist einer der wenigen Regisseure, deren Filme man sich anschaut und sagt: So etwas habe ich noch nie vorher gesehen. Dass „Offret“ in Schweden gemacht wurde, war mir gar nicht so bewusst, bevor ich mich mit dem Film beschäftigt habe. Aber das ist ja auch eine sehr interessante Konstellation.

Da wir bereits wussten, dass wir „Godzilla“ zeigen würden, ein Film, der auch eine Atomkatas­trophe thematisiert, aber auf ganz andere Art und Weise, in einem ganz anderen Land, unter anderen Vorzeichen, war auch das noch ein Aspekt. Dass sich hier zwei Filme ergänzen, auf ihre Weise Fragen nach der menschlichen Moral und Verantwortung stellen. Auch das war ein Grund, „Offret“ für die „Berlinale Classics“ auszuwählen.

Saskia Walker, Filmemacherin und Mitherausgeberin der Filmzeitschrift „Revolver“

Und wenn es sich bei dem im Fernsehen angekündigten Weltenende um eine Propaganda-Falschmeldung handelte und das abgeschnittene Telefon eine zufällige Panne ist? Tarkowki schildert Alexanders Opfer fast als Satire, als hoffnungsloses, sogar sinnloses Opfer. Eine zerstörte Familie, die ihn weniger interessiert als das zerstörte, einsam gelegene, bourgeoise Familienheim. Für nichts. Und welche Rolle spielt die interessanteste Figur des Films, der spirituelle Postbote? Führt auch er Alexander in die Irre? Handelt es sich nur um eine Projektion, um eine außereheliche Liebschaft zu rechtfertigen? Eine Liebschaft rein aus Mitleid gar? Unter den gediegenen Bildern ist der Grund brüchig und, wie bei jedem großen Kunstwerk, die Wahrnehmung frei.

Jeder Film der „Berlinale Classics“ läuft an zwei bis drei Terminen. „Offret“ wird am 17., 18. und 19. Februar in verschiedenen Berliner Kinos gezeigt.

Ira Posrednikowa

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