Das Ende der Kritik

Er verdreht Überschriften, löscht über Nacht Beiträge und behandelt Redakteure wie Befehlsempfänger: Das Wirtschaftsblatt „Wedomosti“ hat einen neuen Chefredakteur. Soll die renommierte Zeitung nun auf Kremlkurs gebracht werden?

Nüchtern und kritisch: Die „Wedomosti“ legt sich auch mit Politikern und Wirtschaftsbossen an. Doch wie lange noch? (Foto: it.lli-study.ru)

Unabhängig, nüchtern und informativ: Die Zeitung „Wedomosti“ gilt als Russlands führendes Wirtschaftsblatt. Rund 75 000 Abonnenten schätzen sie für ihre kritischen Analysen, die auch politisch brisante Themen nicht aussparen. Regelmäßig kommen in den Kommentarspalten liberale Gegenstimmen zu Wort, scharfe Kritik am Kreml ist keine Seltenheit. Doch nun kämpft das Qualitätsmedium um seine Unabhängigkeit.

Chefredakteur brüskiert Journalisten

Begonnen hatte alles mit einer Personalie. Im März wurde Andrej Schmarow zum neuen Chefredakteur der Zeitung ernannt. Der 64-Jährige hatte zuvor für die Tageszeitung „Kommersant“ geschrieben und ist Mitgründer der als kremlnah geltenden Wirtschaftszeitung „Expert“. Von Anfang an legte sich der neue Chef mit der Redaktion an. So erklärte Schmarow schon beim ersten Treffen mit den Journalisten, das Blatt nicht zu lesen, kritisierte aber trotzdem die stilbildenden kritischen Meinungsspalten. Auch das Redaktionsstatut – der besondere Stolz der „Wedomosti“ – sei ihm nicht bekannt. In den unter russischen Journalisten auch als Dogma bekannten Leitlinien verpflichten sich die Redakteure zu strenger Nüchternheit und Faktentreue. Einflussversuchen aus Wirtschaft und Politik dürfe man sich nicht beugen. Kritische Medien reagierten alarmiert auf die Vorgänge, Kolumnisten warnten vor Zensur.

Doch Schmarow ließ es bei seinem denkwürdigen Auftritt nicht bewenden. Als nächsten Schritt änderte er ohne vorherige Absprachen die Überschrift eines Artikels über den Rückzug des Rosneft-Konzerns aus Venezuela. Der neue Titel stellte den staatlichen kontrollierten Ölgiganten in ein positives Licht – und stand damit im völligen Widerspruch zu dem kritischen Text. Tage später löschte Schmarow über Nacht gleich eine ganze Kolumne über das Unternehmen. Damit nährte er den Verdacht, im Interesse von Rosneft-Chef Igor Setschin zu handeln. Dieser zählt als ehemaliger Präsidentenberater und politischer Weggefährte Wladimir Putins zu den einflussreichsten Männern Russlands.

Redaktion schlägt zurück

Die Redaktion reagierte empört – und ging auf die Barrikaden. 20  Jahre habe die Zeitung für Objektivität und Unabhängigkeit gestanden, heißt es in einem im Netz veröffentlichten Kommentar. In dieser Zeit habe die „Wedomosti“ die Werte der unabhängigen Journalistik maßgeblich geprägt. Doch mit den Eingriffen Schmarows drohe nun eine der letzten Informationsquellen, die sich weder Zensur noch Selbstzensur beugten, zu verschwinden. Die Journalisten schlugen daher eine mit dem Haus bekannte Journalistin – Anfisa Woronina – für Schmarows Stelle vor. Allerdings mache sich die Redaktion keine Illusionen über den Ausgang des Konflikts und respektiere das Recht der Eigentümer zur Ernennung des Chefredakteurs. „Doch wir sind bereit, uns für die Beibehaltung der bisherigen Redaktionslinie zu kämpfen!“

Schmarow ließ sich von dem viel diskutierten Schreiben jedoch nicht beeindrucken – und legte nach. Umfragen des renommierten Meinungsforschungsinstitutes Lewada-Zentrum dürften künftig nicht mehr zitiert werden, ordnete der Chefredakteur nach Informationen des Onlinemagazins „Medusa“ an. Zudem sei jegliche Kritik der russischen Verfassungsreform verboten. Die Anweisung käme angeblich direkt aus der Präsidialverwaltung. Der Kreml dementierte umgehend. „Ich weiß nicht, von wem er solche Empfehlungen haben soll“, erklärte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Der Kreml mische sich nicht in Redaktionsabläufe ein. Auch die Redaktion reagierte auf Schmarows Eskalationskurs – mit einem weiteren Brief. Die Vorgänge seien einmalig, nie zuvor habe es bei der „Wedomosti“ Publikationsverbote gegeben oder seien gar Artikel gelöscht worden. Schmarow sei endgültig dabei, das wichtigste Kapital der Zeitung – das Vertrauen der Leser – zu verspielen.

Zeitung wechselt den Besitzer

Der Richtungskampf ist aufs Engste mit einem Eigentümerwechsel verbunden. Anfang März war bekannt geworden, dass die „Wedomosti“ verkauft wird. Neue Eigentümer sollen der Verleger Konstantin Sjatkow und der Investmentmanager Aleksej Golubowitsch werden. Beiden Männern sollen dem Kreml nahestehen. So sagte Golubowitsch beispielsweise im Verfahren gegen den früheren Jukos-Chef Michail Chodorkowski aus. Sjatkow entstammt einer der einflussreichsten Verlegerfamilien Russlands. Sein Vater war 2012 eine sogenannte Vertrauensperson des Präsidenten. Die neuen Besitzer installierten Schmarow als neuen Chefredakteur.

Zuvor hatte die Zeitung Demjan Kudrjawzew gehört. Der Medienmanager hatte das 1999 als Gemeinschaftsprojekt von „Wall Street Journal“ und „Financial Times“ gegründete Blatt 2015 erworben. Grund des damaligen Eigentümerwechsels war ein Gesetz aus dem Vorjahr: Ausländer durften nicht mehr als 20 Prozent der Aktien russischer Medien besitzen. Die Initiative galt als Angriff auf die Zeitschrift „Forbes“, die zum damaligen Zeitpunkt von einer Tochterfirma des Axel Springer Verlages herausgegeben wurde. Allerdings verlor Kudrjawzew 2017 die russische Staatsbürgerschaft. Der Grund: er soll falsche Angaben über seine israelische Staatsbürgerschaft gemacht haben. Anfang 2020 erklärte er, nach einem Käufer für die „Wedomosti“ zu suchen. Ihm fehle die Kraft, um das Blatt weiter wirtschaftlich rentabel zu führen.

Volles Kommando zurück?

Der Verkauf könnte wegen der Auseinandersetzung nun allerdings doch noch platzen. Investor Aleksej Golubowitsch deutete Ende April an, sich vom Kauf zurückzuziehen. Die Finanzierung des Blatts sei in der Corona-Krise äußert unsicher, zitiert die Nachrichtenseite The Bell aus einem Brief Golubowitschs. Zudem sei der Konflikt in der Redaktion unnötig verschärft worden und lassen jede nun jedes Geschäft wie ein politisches Vorhaben aussehen.

Birger Schütz

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