Bolschoi-Theater: Deutsch, reiner als bei den Deutschen

Mit Deutsch kommt man in Russland nicht sonderlich weit, aber ausgerechnet am Bolschoi-Theater, diesem Inbegriff russischer Kultur, führt daran kein Weg vorbei. Deutsch ist die zweitwichtigste Opernsprache nach Italienisch. Damit es sich selbst aus dem Munde derer, die es gar nicht beherrschen, echt anhört, wird schon den Stars von morgen deutsche Phonetik beigebracht.

Russlands berühmtestes Opernhaus: das Bolschoi-Theater in Moskau (Foto: Wikimedia Commons)

„Der Tag ging regenschwer und sturmbewegt, ich war an manch vergeßnem Grab gewesen. Verwittert Stein und Kreuz, die Kränze alt, die Namen überwachsen, kaum zu lesen.“ Das Gedicht „Auf dem Kirchhofe“ hat einst der deutsche Dichter Detlev von Liliencron verfasst, von Johannes Brahms wurde es vertont. Nun muss der Bariton Bogdan Gujenok das Lied bei einem Konzert von Künstlern des Jugendprogramms am Bolschoi-Theater vortragen. Es ist Anfang Juni, bis zum Konzert sind es noch drei Wochen – genug Zeit, um weitere drei derartige Werke perfekt einzustudieren. Dass der Interpret die deutsche Sprache gar nicht kennt, soll im Idealfall noch nicht einmal ein deutscher Muttersprachler merken.

Die deutschen Konzerte – wie auch französische und italienische – sind Teil der Ausbildung junger Künstler am Bolschoi-Theater. „Deutsche, österreichische Musik stellt einen gewichtigen Teil des Erbes an klassischer Musik dar“, sagt Dmitri Wdowin, der künstlerische Leiter des Jugendprogramms. Viele solche Teile kenne das Erbe nicht: Es setze sich hauptsächlich aus deutscher, italienischer, französischer und russischer Musik zusammen, alles andere sei eine Nummer kleiner. „Das ist der Grundstock unseres Repertoires, das müssen wir kennen“, so Wdowin. „Wir reden hier nicht nur von Musik, sondern auch von grandioser Poesie. Ein unerschöpflicher Fundus an Schönheit, Weisheit, Vollkommenheit.“ Das gelte auch für die russische Musik. Hier sei man „auf Augenhöhe“.

Aus hunderten Kandidaten für das Jugendprogramm ausgewählt zu werden, ist ein Türöffner für die weitere Karriere. „Wenn in deiner Bewerbung steht, dass du am Jugendprogramm des Bolschoi-Theaters teilgenommen hast, dann ist das prestigeträchtig und verschafft dir eine ganz andere Aufmerksamkeit“, erzählt Elmira Karachanowa, die das Programm in diesem Jahr abschließt. Früher habe sie sich gar nicht vorstellen können, wie einem deutschsprachigen Repertoire beizukommen sei. „Aber hier sind so tolle Pädagogen.“

Die richtigen Muskeln spielen lassen

Um die 15 Plätze bewerben sich jedes Jahr bis zu 500 junge Leute. Mit denen, die den Zuschlag erhalten, arbeitet Roman Matwejew an der deutschen Phonetik. Matwejew ist promovierter Philologe und erfahrener Simultandolmetscher. Deutsch liebt er seit der Grundschule und weiß Dinge über die Sprache, die den Wenigsten bewusst sein dürften. So werden bei Deutschsprechenden andere Gesichtsmuskeln beansprucht als bei Muttersprachlern slawischer Sprachen. Und wie hat doch eine Pädagogin am Bolschoi-Theater gesagt? Matwejew zitiert: „Jeder Künstler muss wissen, was in seinem Mund vor sich geht. Für falsche Töne ist da kein Platz.“

Einen seiner Studenten ermahnt der Phonetiklehrer, er möge doch bitte „den Bayern weglassen“. Damit spielt er auf dessen dialektgefärbte Aussprache an. Außerdem müsse darauf geachtet werden, die Tonfarbe der deutschen Vokale zu treffen, „dunkel oder hell“.

Die Teilnehmer des Jugendprogramms am Bolschoi-Theater werden nach einem deutschen Konzert beklatscht. (Foto: Pawel Rytschkow)

Wer es ins Jugendprogramm schafft, der hat entweder bereits ein Hochschulstudium auf dem Gebiet der Musik hinter sich oder studiert gerade. Am Bolschoi-Theater können die Teilnehmer ihr Können unter Anleitung der besten Lehrer Russlands weiter verfeinern. Sie werden in Englisch und Italienisch unterrichtet, mit Französisch und Deutsch beschäftigen sie sich rein phonetisch. Für mehr ist zwischen all den Proben und Auftritten einfach keine Zeit.

Deutsch lernen? Später mal

Doch viele eignen sich die deutsche Sprache selbstständig an oder nehmen sich das für später vor. „Ich werde garantiert Deutsch lernen, darauf können Sie sich verlassen, Roman Alexejewitsch“, verspricht Matwejew der Bariton Nikolai Semljanskich während der gemeinsamen Arbeit. Die Voraussetzungen sind bestens: Semljanskich fällt es leicht, auf Deutsch zu singen, seine Aussprache ist ausgezeichnet und seine Bereitschaft, sich deutsche Werke zu erschließen, riesig. „Er ist der beste Papageno, den ich je gehört habe“, lobt Matwejew seinen Schüler, der bescheiden den Blick senkt.     

Bis die deutsche Opernsprache perfekt sitzt, ist es meist ein mühsamer Weg. Aber Roman Matwejew lässt sich die Anstrengungen nicht anmerken. In der Kammer- und Opernmusik, sagt er, komme es auf Hochdeutsch an – und das sei selbst in Deutschland eine Seltenheit. „Kein Deutscher spricht ein sauberes Deutsch, es sei denn, er hat an sich gearbeitet. Ansonsten macht sich immer der Dialekt bemerkbar, beim Singen ganz besonders.“

Lehrmeister Matwejew bringt seinen Schützlingen ein phonetisch einwandfreies Deutsch bei. Dafür ist er praktisch rund um die Uhr für sie ansprechbar, stärkt ihnen den Rücken, verbessert, kritisiert, aber lobt auch, wie selten ein Pädagoge lobt. Die Studenten schwärmen von ihm, viele halten noch als gestandene Künstler den Kontakt. Matwejew hilft auch Jahre später aus der Not, wenn ein schwieriger deutscher Text bewältigt sein will.

Vom Weltgeschehen bleibt unterdessen auch das Bolschoi-Theater nicht unberührt. Der internationale Austausch sei zum Erliegen gekommen, sagt Dmitri Wdowin, doch die Arbeit gehe weiter. In den 13 Jahren, die das Jugendprogramm jetzt existiert, habe man eine Mannschaft zusammenstellen können, die ohne ausländische Fachleute auskomme. „Ich sehe die Situation als Herausforderung“, so Wdowin. „Wir haben sie angenommen und wir werden damit fertig.“

Ljubawa Winokurowa

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: