Aus Barnaul zum deutschen „Gymnastik-Juwel“

Die fünffache Goldmedaillengewinnerin der Weltmeisterschaft, die im August im spanischen Valencia stattfand, hat nicht so viel Zeit für Interviews. Aber es gelang der MDZ, mit der 16-jährigen Weltmeisterin in Rhythmischer Sportgymnastik Darja Varfolomeev über den Sport, die Trainer, ihre deutschen Wurzeln und die Integration in Deutschland zu sprechen.

Darja Varfolomeev
Darjas Sternstunde: fünf Goldmedaillen in Valencia (Foto: Instagram varfolomeev2006)

Erstmal unsere herzlichsten Glückwünsche zu den herausragenden Ergebnissen. Schlagen die Wellen der Emotionen noch hoch oder ist die Euphorie schon vorbei?

Danke. Ich hatte nicht mit solch einem Resultat gerechnet, die Emotionen schlugen hohe Wellen. Jetzt ist mir inzwischen bewusst geworden, was passiert ist. Aber ich habe mich schon wieder in die Arbeit gestürzt, ich muss mich jetzt auf die Olympiade vorbereiten.

Du sagst, dass Du ein solches Ergebnis nicht erwartet hattest. Mit welchen Gedanken bist Du nach Valencia gefahren?

Ich wollte nur eine gute Leistung abliefern und mich nicht blamieren (sie lacht). Eine Goldmedaille hatte ich bereits von der Weltmeisterschaft 2022. Ich habe mir gedacht, ich habe im vorigen Jahr eine Goldmedaille gewonnen und ich sollte auch in diesem Jahr eine holen. Und alles ist gut. Für mich war das wahrscheinlich nur ein Wettkampf. Wir haben uns, das ist ja klar, intensiv vorbereitet, aber ich habe am meisten mit mir selbst gekämpft, bin sozusagen gegen mich angetreten.

Bei dieser Weltmeisterschaft hast Du nun die erste, dann die zweite und die dritte Goldmedaille geholt. Was hast Du empfunden?

Ja, es hat einmal geklappt und dann noch einmal. Das ist nicht so, als ob es geplant gewesen wäre. Es kam für mich unerwartet. Ich habe alle Programme fehlerfrei absolviert, im Mehrkampf, im Finale, habe alles gegeben, was ich konnte. Ich fand die Kraft und den Rhythmus.

Nach diesem Ergebnis warst Du plötzlich berühmt, alle sprachen über Dich. Wie lebt es sich mit dieser Bekanntheit?

Bei mir hat sich im Grunde genommen nichts verändert. Ich gebe Interviews und so was alles. Das Wichtigste ist, dass ich ein Ziel vor  Augen habe und darauf hinsteuere. Dass ich öfter erkannt werde, ist natürlich angenehm. Aber sonst ist alles wie früher. Ich muss nicht weniger, sondern viel mehr trainieren.

Du hast jetzt eine Menge Fans, aber unter den Zuschriften gibt es auch negative. Wie gehst Du damit um?

Jeder hat Hasser. Wenn man bekannt ist, kommt auch das Negative. Aber ich achte ganz und gar nicht darauf. Wenn man ein Ziel hat, muss man es ansteuern. Und was manche Leute sagen, ist ihre Sache.

Deutsche Medien nennen Dich den deutschen „Gymnastik-Juwel“, in den Überschriften der russischen Zeitungen bis Du „das sibirische Mädchen“ und eine „russische Gymnastin“. Wie kommt denn das?

Ich bin in Sibirien geboren, dort begann ich auch mit der künstlerischen Gymnastik. Meine Trainerin Vera Viktorowna legte den Grundstein. Aber meine berufssportliche Karriere begann ich in Deutschland, wo ich große Fortschritte machte. Dafür bin ich Julia Raskina, die mich seit meinem 12. Lebensjahr und bis heute trainiert, sehr dankbar. Wir sind ein gutes Team. Aber es ist natürlich klar, warum die einen so und die anderen so schreiben. Das berührt mich nicht.

Was bedeutet, ein gutes Team mit der Trainerin zu sein?

Ich liebe Julia als Trainer und Mensch sehr. Sie ist sehr verständnisvoll und versteht, wenn ich irgendwo Schmerzen habe. Sie steht mir immer zur Seite, wenn es irgendwelche Probleme gibt. Die gab es natürlich, als ich im Internat lebte. Sie stellt sehr hohe Anforderungen, und das muss ein Trainer auch machen, andernfalls gibt es keinen Erfolg. Auch wenn wir mal anderer Meinung sind, das kommt ja bei jedem mal vor, finden wir immer am Ende eine gemeinsame Sprache und bewegen uns weiter in Richtung unseres Zieles.

In einem Interview sagst Du, dass Du in Deutschland zu Hause bist.

Natürlich. Wenn du hier trainierst, in die Schule gehst, deine Familie ziemlich lange hier wohnt, ist das dein Zuhause.

Wie wurde es Dein Zuhause?

Anfangs war es natürlich schwer. Eine andere Sprache, andere Umstände, andere Regeln. Mich hat zum Beispiel sehr verwundert, dass hier am Sonntag alle Geschäfte geschlossen sind. Den ersten Monat lebte ich mit meiner Mutter, aber die Eltern konnten nicht gleich umsiedeln. Das war sehr schwer. Schule, Training. Und das Training unterschied sich von dem, an das ich in Barnaul gewöhnt war. Dann lief es immer besser. Ich habe mich eingelebt und ungefähr nach einem Jahr war alles in Ordnung.

Du bist in Barnaul geboren, aber Deine Familie hat deutsche Wurzeln. Hat das geholfen, sich einzuleben?

Wir waren immer mit Deutschland verbunden. Wir sind oft hingefahren, als wir noch in Barnaul lebten. Ich habe von Geburt an einen deutschen Pass. Meine Mutter und mein Großvater sprechen Deutsch. Diese Wurzeln verbanden uns mit Deutschland. Und sie halfen natürlich, sich ins neue Leben einzufügen.

Was gibt es in Deinem Leben noch außer Sport?

Der Sport lässt mir wenig Freizeit, aber wenn ich mal welche habe, zeichne ich gern und gehe mit dem Hund spazieren. Ich gehe überhaupt gern in den hiesigen Parks spazieren, die sehr schön sind. Ich reise in Deutschland umher. Und ich fliege gern mit dem Flugzeug.

Kannst Du es kaum erwarten, zur Sommerolympiade 2024 nach Paris zu fliegen?

Meine Trainerin und ich bereiten uns darauf vor.

Das Gespräch führte Igor Beresin.

Dmitri Varfolomeev, Darjas Vater

Anfang August 2018 kamen wir zur Sichtung nach Deutschland, die Natalja Raskina, die Mutter unserer Trainerin Julia, durchführte. Dort war auch die Teamchefin der Nationalmannschaft Deutschlands Isabell Sawade. Die Sichtung begann um 10 Uhr morgens. Es vergingen zwei Stunden, dann noch zwei und einige weitere. Und gegen 17 Uhr, als wir in einem nahe gelegenen Café Kaffee tranken, bat man uns mitzukommen: „Wir sind bereit, dieses Mädchen in die Nationalauswahl Deutschlands aufzunehmen, sie ist geeignet.“ Was tun? Wir wohnten in Barnaul, 6000 Kilometer von Schmiden entfernt. Wir wussten nicht, was wir tun sollen und diskutierten leidenschaftlich. Wir hatten viele Tausend Fragen. Und plötzlich fragte die 11-jährige Dascha ganz gelassen: „War das alles? Habt Ihr alles gesagt? Ich werde hier trainieren, ich werde in die deutsche Nationalauswahl gehen. Wir müssen meinen Koffer packen.“ Die 200 Kilometer bis München fuhr die Familie schweigend. Nach vier Monaten begann Dascha in Schmiden zu trainieren.

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