Auf Jagdausflug in einem russischen Wald

MDZ-Autor Christoph Ehrle ist passionierter Jäger. So oft es geht, zieht er in die Natur. Das Jagdglück ist ihm dabei nicht immer treu. Dann entdeckt er aber schon einmal Gewehre, die man in deutschen Wäldern nicht finden wird. Wie bei seinem letzten Jagdausflug Mitte Juni.

Wochenende im Jagdmodus. Autor Christoph Ehrle (m.) mit Jewgenij (l.) und Iwanytsch (r.). Der Hut zeigt jedem sofort, dass hier ein Deutscher schießt. (Foto: privat)

Freitagabend, 19.15 Uhr. Während Moskau sich schick macht für ein warmes Sommerwochenende, stehe ich am Jaroslawler Bahnhof. Direkt von der Arbeit bin ich in Jagdmontur losgefahren – Wanderschuhe, olivgrüne Hose, Jacke und Jägerhut. Für mich, der aus einer kleinen Stadt in Süddeutschland kommt, ist die Einladung zur Jagd eine gute Gelegenheit, dem Großstadtgetümmel zu entkommen. Pünktlich fährt der Expresszug nach Alexandrow los. Ein bisschen ungewollt falle ich im Zug auf. In den Gesichtern der Mitreisenden entdecke ich fragende Blicke. Anscheinend hat mich mein Jagdhut als Ausländer enttarnt. Doch das ist egal. Die entschleunigende Aussicht aus dem Zugfenster mit der satten grünen Natur lässt mich spüren, dass ich Moskau den Rücken kehre und in ein anderes Russland eintauche. Da können sie ruhig gucken.

Der Jagdausflug im Juni ist nicht mein erster in Russland. Auch in dem Revier war ich bereits. Es heißt Jadggenossenschaft Balakirewo, liegt unweit von Alexandrow im Gebiet Wladimir. Bis nach Moskau sind es gut 100 Kilometer. Mit einer Fläche von 24 000 Hektar ist Balakirewo eher ein mittelgroßes Jagdrevier.

Am Bahnhof in Alexandrow erwartet mich Jewgenij, der Direktor der Genossenschaft. In der Basa, dem Verwaltungssitz der Jagdgenossenschaft angekommen, brennt bereits der Kamin und ich kann mich auf die kommenden Tage einstellen.

Schussübungen mit NATO-Munition

Am 1. Juni beginnt in Russland die Jagd auf Wildschweine, wobei führende Bachen (weibliche Wildscheine mit Jungen) nicht geschossen werden dürfen. Da meine Wildbretvorräte der herbstlichen Elchjagd zur Neige gingen, bin ich wohlauf in der mir bekannten Umgebung einen Schwarzkittel zu erlegen, mit dem Ziel meinen sommerlichen Fleischbedarf zu decken.

Und es soll recht gemütlich zugehen. Gesellschaftsjagden in großer Runde finden in Russland wie auch in Europa im Herbst und Winter statt. Wir haben für das verlängerte Wochenende eine Individualjagd, eine sogenannte Ansitzjagd, auf einem klassischen Hochsitz angedacht.
Mit Jewgenij habe ich für den Samstagvormittag ein paar Testschüsse vereinbart. Ich will ein Gefühl für die Waffe bekommen, mit der ich am Abend dann auf den Hochstand soll. Ich habe mich für ein halbautomatisches „Wepr .308“-Gewehr entschieden. Ungewöhnlich für eine russische Waffe verschießt das Wepr-Kaliber 7,62 x 51 Millimeter. Das ist die Standardgröße von NATO-Patronen. Wohl auch deshalb erinnert mich der Karabiner mehr ans Militär als an die Jagd.

Dann geht es schließlich mit dem UAZ-Kastenwagen los, über ein paar Feldwege in Richtung Wald. Dort stellen wir das Auto ab und Zielscheiben auf. Mit fremden Waffen ist es immer so eine Sache, denke ich mir, als Jewgenij mir das Gewehr mit montiertem Nachtsichtgerät in die Hand drückt und sagt „dawaj“ – „los“. Magazin rein, tief durchatmen und durchladen. Das Durchladen funktioniert mit einer „Wepr“ wie man es aus Filmen kennt, den Schlitten bis zum Ansatz runterziehen und loslassen. Auf meine Frage nach dem Rückschlag antwortet Jewgenij mit russischer Gelassenheit, „pojdjot“ – „passt schon“. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass Jewgenij zwei Meter groß ist, in seiner Freizeit Eishockey spielt und mindestens doppelt so breit wie ich ist, was seine Antwort für mich nicht besonders glaubhaft machte.

Das Fensterchen des Kastenwagens aufgemacht, ziele ich nun auf die Zielscheibe und nehme gleichzeitig auch meinen aufkommenden Herzschlag wahr. Tief durchatmen, zielen und das Gewehr fest gegen die Schulter drücken, was ich zweimal wiederholt habe. Meinen linken Zeigefinger auf den Abzug gelegt und bums, der erste Schuss ist gefallen. „Halb so wild“, war mein erster Gedanke. Nach dem dritten Schuss gehen wir zur Zielscheibe. „Molodez“ – „Prachtkerl“, kommentiert Jewgenij meine Schießkünste und klopft mir auf die Schulter.

Statt Bumm macht es nur Klick


Nach einer kleinen Siesta geht es am Nachmittag über holprige Schotterwege zum ehemaligen Jagdaufseher, dem 74-jährigen Iwanytsch. Mit einem Piratentuch auf dem Kopf grinst er mich nach unserer Ankunft mit seinem grauen Schnauzer an und begrüßt mich auf Deutsch mit den Worten „gutes Wetter“. Mit dem Quad bringt mich der rasende Opi dann zum Hochsitz. Nochmal eine halbe Stunde über Wiesen, durch Wald und Sumpflandschaft. Permanent klatschen mir Äste ins Gesicht und ich bin damit beschäftigt, meinen Hut nicht zu verlieren. Warum Iwanytsch während der Fahrt seine Bockflinte auf der Schulter hat, ist mir bis heute ein Rätsel. Aber ehrlich gesagt, man kann sein Gewehr auf dem Quad nirgendwo ablegen. Deswegen sitze ich hinter Iwanytsch mit meinem halbautomatischen Gewehr auf dem Schoß und versuche, nicht vom schnellen Gefährt zu fallen.

Um 18.30 Uhr setzt mich Iwanytsch am Hochstand ab. Vier Stunden später soll er mich wieder abholen. 22.30 Uhr vergewissern wir uns noch mal. Denn Handyempfang ist hier draußen Fehlanzeige. Mit einem „udatschi“ – „viel Erfolg“ und mit einem jungenhaften Grinsen rast er davon. Und ich mache es mir erst einmal auf dem Hochstand bequem. Bis auf die vielen Mücken fühlt es sich hier oben ganz vertraut an.

Nachdem ich mit Weizenschrot angekirrt habe, warte ich geduldig auf die Wildschweinrotte. Um halb zehn ist es dann so weit. Nachdem es kurz im Gebüsch raschelt, grunzen die Schweine, was das Zeug hält. Nicht schlecht, denke ich mir. Ich zähle 15 Wildschweine, da-runter vier Überläufer, eine Bache und zehn Frischlinge. Nachdem ich einen Überläufer angesprochen habe, halte ich sobald mein Gewehr im Anschlag. Ich lasse mir Zeit. Auf das Schulterblatt zielend, drück ich schließlich entschlossen ab. Doch statt des erwarteten „Bumm“ macht es in diesem Moment nur „Klick“. Mist, das Gewehr hat Ladehemmung und zu allem Überfluss auch keine Patrone im Lauf. Schnell lade ich nochmal durch. Doch zu spät. Die Bache hat mich entdeckt und die Rotte ist weggelaufen. Naja, zum Glück ist es erst Samstag und ich habe noch einen Tag für mein Glück.

Zuversicht am zweiten Tag


Voller Eindrücke vom ersten Jagdtag stehe ich am Sonntagmorgen mit der Gewissheit auf, meinen Fehler bei der Waffenhandhabung nicht zu wiederholen. Nach dem Frühstück hat sich Jewgenij mit Wolodja, einem weiteren Jagdaufseher des Reviers, zum Schießtraining verabredet. Wieder geht es mit dem UAZ an den Waldrand. Dieses Mal stellen wir die Scheiben in 100 Meter Entfernung auf und schon geht es los.

Lächelnd zeigt uns Wolodja stolz seine zwei Langwaffen. Ich muss gestehen, dass ich durchaus beeindruckt bin. Vor mir liegen ein halbautomatisches Scharfschützengewehr vom Modell TIGR mit einem Zehn-Schuss-Magazin und ein großkalibriges Scharfschützengewehr vom Modell TG3 mit fünf Patronen im Magazin. Die Optik von beiden Gewehren erinnert mich an Langwaffen von militärischen Spezialeinheiten. Auch hier täusche ich mich nicht. Beide Gewehre stammen von Militärwaffen ab.
Wolodja macht den Anfang. Auf dem Dreibein Platz nehmen, Magazin reinschieben und los. Bumm, Bumm, Bumm… routiniert zieht er das Magazin aus dem Gewehr und legt es auf den Tisch. Nach einem „Dawaj, posmotrim“ – „Los, schauen wir mal“ kontrollieren wir gemeinsam die Zielscheibe. Der macht dem Gewehr alle Ehre, denke ich mir, als wir die Treffer begutachten. Zielsicher, minimale Streuung.

Nun bin ich an der Reihe. Da die russischen halbautomatischen Gewehre alle gleich funktionieren, kann man nicht viel falsch machen, wenn man die Handhabung einmal verstanden hat. Magazin rein, Schlitten nach hinten und loslassen. Anschließend das Ziel anvisieren. Deutlich spüre ich meinen Herzschlag, also atme ich zur Beruhigung nochmals tief durch. Den rechtsansässigen Sicherheitshebel runtergeklappt. Ich bin bereit. In Nullkommanichts ist das Magazin leer und ich erleichtert. Sanfter Rückschlag, der fühlt sich gut an. Magazin raus, nochmal den Lauf kontrolliert, Sicherung rein und vom Schießtisch aufgestanden.

Schussübungen mit einem Karabiner aus den 1930er Jahren. (Foto: privat)

Und wieder grinst Wolodja, als er ein drittes Gewehr aus seinem Jeep holt. Es kommt mir bekannt vor, aber ich kann es nicht einordnen. Wolodja löst auf: Es ist ein deutscher Wehrmachtskarabiner vom Typ 98K aus dem Jahr 1937. „Nemezkoje katschestwo“, deutsche Qualität und funktioniert daher noch einwandfrei, meint Wolodja. Ich bin perplex und frage nach dem Kaliber. Die Antwort ist eine konfrontative Gegenfrage auf russische Art: „Ne snajesch swoj kalibr, schto li?“ – „Du kennst wohl euer Kaliber nicht, wa?“ Ohne Nachzudenken antworte ich 8 × 57 und kontere mit einem „koneschno snaju“ – „natürlich kenn ich das“.

Na dann soll ich schießen, meint Wolodja und nickt. „Deutsche Waffe, deutscher Mensch und deutsche Patronen“. Dabei zieht er eine Packung deutscher Patronen aus der Tasche. Ein deutsches „krass“ rutscht mir raus, aber das versteht Wolodja nicht. Ich bin verblüfft, dass eine über 80 Jahre alte Waffe noch funktionsfähig ist und das Waffensystem von Mauser bis heute produziert wird. Verschluss auf, Patronen rein und Feuer frei.

Ein neuer Versuch auf dem Hochstand

Nach dem Mittagessen fahre ich mit Gennadij, dem Instandhalter der Jagdgenossenschaft, mit einem russischen Allterrainfahrzeug (Wesdechod) zu mehreren Kirrungen im Revier. Die tiefen Pfützen sind für das Gefährt kein Problem. Ich hingegen kämpfe wieder einmal mit den Ästen im Gesicht. Da es am Vortag geregnet hatte, werden meine Klamotten bei unserer Fahrt durch die feuchten Äste ziemlich klamm. Doch die Pause am kleinen Djakonowo-See entschädigt für die nassen Klamotten. Es riecht nach Freiheit hier mitten im Wald. Auch, weil es wieder keinen Handyempfang gibt.

Auch bei dieser Tour ist die Jagdausrüstung dabei. Gennadij soll mich noch zu einem Hochsitz bringen, so war es ausgemacht. Auf dem Rückweg zur Basa setzt mich der Instandhalter dann auch auf einem Hochsitz ab. Ich klettere hinauf und richte mich ein. Konzentriert lade ich die Waffe, montiere das Nachtsichtgerät und lausche dem Vogelgezwitscher in der Dämmerung. Ich bin bereit, doch die Wildschweine lassen sich an diesem Abend nicht blicken.

Christoph Ehrle

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