Anlass zu nationaler Reflexion

Das antisemitische Pogrom am Flughafen Machatschkala schockierte viele, darunter auch die MDZ-Autorin Femida Selimowa. Drüber sprach sie mit der dagestanischen Dichterin und Pädagogin Mijasat Muslimowa. Es sieht so aus, als ob viele in der Republik die offizielle Erklärung über die Ursachen des Pogroms richtig finden.

Mijasat Muslimowa
Mijasat Muslimowa ist sich sicher, dass kaukasische Traditionen das beste Mittel gegen Antisemitismus sind. (Foto: Mijasat Muslimowa)
Was erklärt diesen Ausbruch an Antisemitismus?

Was da geschah, ist für Dagestan völlig untypisch. Alles begann mit dem Mitgefühl für die Palästinenser und mit dem Protest gegen die endlose Tötung von Kindern und Zivilisten. Kaukasier legen immer großen Wert auf gegenseitige Hilfe. Die Menschen strömten zum Flughafen, um ihren Ansichten zum Konflikt in Nahost Ausdruck zu verleihen.

Schade, dass es so weit kommen musste, der Flughafen ist kein Ort für Kundgebungen. Es war klar, dass eine Massenpsychose einsetzen würde. Es ist sehr schlimm, dass die Jugend den Aufrufen der Provokateure gefolgt ist und schließlich ein Pogrom inszenierte, das mit seinem antijüdischen Antlitz ganz Dagestan in Schrecken versetzte.

Wir waren immer so stolz darauf, dass es in unserer multinationalen Republik, in der es allein 36 indigene ethnische Gruppen gibt, seit Tausenden von Jahren nie Konflikte aus ethnischen Gründen gegeben hat. Juden sind Ureinwohner Dagestans. Und plötzlich passierte diese unvorstellbare Grausamkeit … Das alles ist Anlass zum nationalen Nachdenken.

War das vorhersehbar?

Nein, noch vor einem Monat hätte man sich das nicht einmal in seinen schlechtesten Träumen vorstellen können. Doch was die Fernsehsender auf der ganzen Welt seit dem 7. Oktober ausstrahlen, kann einen in den Wahnsinn treiben. Die grausame Situation in Nahost löste eine ebenfalls grausame Reaktion bei denen aus, die der Provokation aufrichtig und ohne nachzudenken nachgegeben hatten.

Wenn die Behörden nicht auf Nummer sicher gegangen wären und eine Kundgebung auf dem Platz zugelassen hätten, um den unterdrückten Gefühlen wie Wut und Schmerz freien Lauf zu lassen, hätten diese Gefühle keinen so hässlichen Ausdruck gefunden.

Hätte dieses Pogrom verhindert werden können?

Ja, wenn unsere Behörden und das Muftiat rechtzeitig eingegriffen und Vernunft gefordert hätten. Es wäre natürlich notwendig gewesen, vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen, damit diese Hitzköpfe den Provokationen nicht erliegen.

Darüber hinaus suchen Radikale jetzt nach Ventilen, um Menschen zu provozieren und den Eindruck zu erwecken, es handele sich dabei um das gesamte dagestanische Volk. Bestimmte Kreise in sozialen Netzwerken haben für sie gearbeitet. Wie Sie wahrscheinlich wissen, war das nicht nur der Telegram-Kanal „Utro Dagestana“, der nach Erkenntnissen der Ermittler von der Ukraine aus gesteuert wird. Das alles muss aufgeklärt werden.

Warum fielen die jungen Menschen so leicht auf die Anrufe herein?

Unsere Jugendlichen sind oft impulsiv, man kann sie leicht zornig machen, zumal eine Menschenmasse die Situation leicht außer Kontrolle bringen kann. Darum verwandelte sich der Protest gegen die israelische Politik in eine Aggression gegen Juden. Das ist natürlich inakzeptabel. Unsere Jugendlichen sind einfachen Geistes und sehr emotional, sie haben über ihre Schritte nicht nachgedacht, sondern spontan gehandelt. Wir müssen mit den jungen Menschen zusammenarbeiten und ihnen beibringen, über Konsequenzen ihres Handelns nachzudenken. Es sei hier erwähnt, dass der Einfluss nationaler Traditionen in den letzten Jahrzehnten nachgelassen hat. Ethnokulturelle Fächer wurden nahezu aus dem Bildungsprogramm verdrängt. Bei der wachsenden Religiösität orientieren sich junge Menschen stärker an der arabischen Kultur und verlieren ihre kaukasische Identität. Als Lehrerin glaube ich, dass die zahlreichen Bildungsreformen dazu geführt haben, dass sich alle auf die Stoffvermittlung konzentrieren und dies auf Kosten einer sinnvollen Bildung geschieht. Literaturunterricht nimmt im Bildungsprogramm keinen besonderen Platz mehr ein, und gerade die Literatur ist es, die die innere Welt eines Menschen prägt und nicht Maximen und Appelle. Die große russische Literatur sowie die Kulturen und Traditionen der Völker Dages­tans sollten einen würdigen Platz im Bildungssystem einnehmen. Die vereinheitlichte Abschlussprüfung hat das ganze System zerstört.

Ist die nationale Politik in der Republik wenig ausgeprägt?

Das ist schwer zu sagen. Vor diesem Ereignis deutete nichts auf ein solches Problem hin. Wir haben keine interethnischen Spannungen und hatten sie auch nie. Jedes Jahr veranstalte ich mehrere internationale und gesamtrussische Literaturwettbewerbe. Schriftsteller und Dichter kommen aus verschiedenen Teilen des Landes zu uns, und alle sind fasziniert von der Güte unserer Menschen und unserer Atmosphäre. Das bedeutet, dass wir nach neuen Formen der Bildungsarbeit mit jungen Menschen suchen müssen, denn es waren die religiösen Konflikte in der Welt, die zu Aggressionen aus ethnischen Gründen geführt haben. Dabei kommt der europäischen Presse eine besondere Rolle zu. Es besteht kein Grund, die muslimische Welt zu dämonisieren, es besteht kein Grund, Angst vor ihr zu haben, es besteht kein Grund, Verachtung auszudrücken, wie es einige Vertreter Israels öffentlich tun und die Palästinenser als Tiere bezeichnen. Die Kraft und das humanistische Potenzial des Islam sollten nicht unterschätzt werden. Und wir müssen alles dafür tun, dass dieses Potenzial zivilisierte Formen annimmt und Nationalismus und Aggression in all ihren Erscheinungsformen ausmerzen.

Wie haben Ihre Bekannten auf diese Ereignisse reagiert?

Natürlich verurteilten sie alle das Verhalten derjenigen, die an der Erstürmung des Flughafens beteiligt waren. Wir alle durchleben schwierige Gefühle. Einerseits die Wut auf die Schurken, die das alles provoziert haben, andererseits besteht der Wunsch, dass so eine Schande nie wieder passieren darf. Ich wiederhole, dass dies absolut nicht typisch für Dagestan ist. Und dieser Fall sollte Gegenstand nationaler Überlegungen werden.

Dieser Vorfall wird noch lange die Meinung über Dagestan beeinflussen.

Schlechte Vorfälle bleiben länger im Gedächtnis als gute. Natürlich ist es nicht gut, dass dieser Vorfall einen falschen Eindruck über Dages­tan erweckt hat, aber die Hauptsache ist nicht, über die Situation zu reden, sondern in der Lage zu sein, den Geist und die Herzen der Menschen durch Reue zu reinigen. Es ist notwendig, den Traditionen der Völker neues Leben einzuhauchen und die Verbindung zwischen den Generationen zu stärken.

Früher hatte jeder Hochlandbewohner eine Feuerstelle in seiner Hütte. Und die Kette über dem Herd, an der der Kessel hing, galt als heilig. Deshalb müssen wir an den Traditionen unserer Vorfahren festhalten, damit wir nicht von den Winden der Globalisierung verweht werden. Die Menschen bewahren die Traditionen, und die interethnische Brüderlichkeit ist die wichtigste Tradition unserer Völker, die sie über die Jahrhunderte hinweggetragen haben. Und wir haben nicht das Recht, die geistigen Werte, die Dagestaner von Generation zu Generation vererbt haben, zu vernachlässigen und zu vergessen.

Das Interview führte Femida Selimowa.

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