Kann Geschichte verfallen? Oder: Geheimnisse einer Holzruine

Ein altes russisches Haus verbarg jahrzehntelang ein Stück regionaler und deutsch-sowjetischer Geschichte. Bis lokale Heimatkundler durch Zufall auf das Geheimnis stießen.

In Moschajsk im Moskauer Gebiet haben Heimatkundler einzigartige Archivdokumente aus dem 19. Jahrhundert entdeckt. Damit haben sie nicht nur die Geschichte der Kreisstadt ergänzt, sondern auch das Geheimnis seiner Bewohner gelüftet. Unter ihnen war auch eine deutsche Frau, die zu Sowjetzeiten vom NKWD in eben jenem Haus verhaftet worden war.

Ein Holzhaus mit rotem Stern

Das "Haus mit dem Stern" heute / Alina Ryazanova

Das „Haus mit dem Stern“ heute / Alina Ryazanova

Das „Haus mit dem Stern“ in der Frunse-Straße in Moschajsk trägt heute einen fünfeckigen roten Stern am Eingang – ein Zeichen dafür, dass hier ein Veteran des Zweiten Weltkrieges gelebt haben muss. Das kleine Anwesen wurde 1872 gebaut, Anfang des 20. Jahrhunderts kaufte es ein gewisser Andrej Andrejew, ein zaristischer Offizier außer Dienst.

Als Mels Dekchanow, Leiter des örtlichen Heimatkundevereins, erfuhr, dass das Haus bald abgerissen werden sollte, erbat er sich für seinen kleinen Verein von der lokalen Regierung, das Haus noch besichtigen und erforschen zu dürfen. Die dabei entdeckten Scherben, Nägel, Münzen, Porzellancremedose sowie ein alter Stuhl, aber vor allem die hölzernen Wände, die einst mit Papieren aus dem Archiv des städtischen Magistrats der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beklebt worden waren, erzählten den Regionalhistorikern dann eine spannende Geschichte.

Ukunden isolierten die Wände

Fragmente aus alten Zeiten dienten einmal als Wandisolierung /Alina Ryazanova

Fragmente aus alten Zeiten dienten einmal als Wandisolierung /Alina Ryazanova

„Die Dokumente sind für das Studium des Vaterländischen Krieges 1812 einzigartig“, sagt Sergej Malyschkin, Historiker von der Moskauer Staatlichen Gebietsuniversität. Er half den Heimatkundlern bei der Dokumentation und dem Studium der aufgefundenen und mehr oder weniger restaurierten Papiere. Nach Einschätzung von Malyschkin kann man mit den Dokumenten eine Vorstellung von der damaligen „alltäglichen Geschichte“ bekommen: wie gewöhnliche Menschen in Moschajsk im 19. Jahrhundert lebten, wie sie Verbrecher beschrieben und Streitigkeiten unter Kaufleuten lösten.

Hilfe von offizieller Seite erhielt der Verein nicht. Weil die Stadt immer wieder warnte, dass bald abgerissen werden sollte, eigneten sie sich die komplizierte Technik der Abnahme der Dokumente schnell selbst an: abdämpfen, Klebstoff auflösen und die Papiere vom Holz abtrennen, trocknen. Insgesamt wurden mehr als 100 Dokumente, manche noch mit Originalsiegel, gerettet. Das Haus steht derweil immer noch, wird vielleicht gar nicht abgerissen, meinen die Heimatkundler. Sie hoffen nun auf ein Museum, um die Fundstücke ausstellen und die Geschichten der Bewohner des Hauses der Öffentlichkeit zu präsentieren zu können.

Ein unerwarteter Gast

Elsa Lanz in jungen Jahren / Archiv N. Rymko

Elsa Lanz in jungen Jahren / Archiv N. Rymko

Letztere haben die Heimatkundler dann eher zufällig erfahren: Plötzlich kam Natalia Rymko, Nachfahrin der Familie Andrejew ins „Museum zum Gedenken der zu Sowjetzeiten verhafteten Mitbürger“. Denn ihre Urgroßmutter, die Deutsche Elsa Andrejewa, geborene Lanz, war damals in eben jenem heutigen „Haus mit dem Stern“ in Moschajsk vor den Augen ihres zehnjährigen Enkels verhaftet worden. Nun wollte die Urenkelin all die Orte sehen, die sie nur aus Erzählungen ihrer Mutter und Großmutter kannte.

„Seitdem ich erfahren habe, dass meine Uroma repressiert wurde, lässt mich ihre Geschichte nicht mehr los“, erzählt Rymko heute. Mit Hilfe der Menschenrechtsorganisation Memorial hat sie die Unterlagen im Fall Andrejewa-Lanz bekommen können. „Dieses Ereignis hat das Leben meiner Familie zerstört. Meine Oma Irina konnte keine richtige Arbeit mehr finden. Eine Bescheinigung über Rehabilitierung spielte dabei keine Rolle: Den Menschen gab es einfach nicht mehr!“ Rymko ging zum Haus. Ein Foto davon hatte sie zufällig im Internet gefunden. Später erzählte sie den Heimatkundlern von ihrer Entdeckung. Diese konnten mit Rymkos Angaben weiter forschen.

Eine deutsch-russische Familiengeschichte

Rymkos Urgroßmutter Elsa Andrejewa, geborene Lanz, stammte aus der Familie des Baltendeutschen Fotografen Paul Lanz aus Pärnu (heute Estland). Nach dem Schulabschluss zog sie in den 90er Jahren des 19. Jahrhundert nach Zentralrussland und arbeitete als Gouvernante. Nach einer misslungenen Heirat kam sie mit ihrer kleinen Tochter Irina nach Moschajsk, wo sie dann den ehemaligen Offizier Andrejew heiratete. In der Stadt unterrichtete Elsa Deutsch am Zentrum zur Kontrolle der Rundfunkfrequenzen sowie in der örtlichen Mittelschule. Nach dem Tod ihres Mannes 1936 musste Elsa einige Zimmer vermieten.

Vor über 100 Jahren: 1915 / Archiv N. Rymko

Vor über 100 Jahren: 1915 / Archiv N. Rymko

Aber, so die Urenkelin Rymko, die Bewohner zahlten ihre Miete nur unregelmäßig und denunzierten ihre Vermieterin, womöglich um das Haus zu übernehmen. Als Beweise führten sie dabei unter anderem die Korrespondenz auf Deutsch mit den Verwandten an. Elsa Andrejewa wurde wegen Spionage und antisowjetischer Agitation angeklagt. 1938 kam sie nach Artikel 58 für konterrevolutionäre Propaganda und Agitation ins Arbeitslager Karlag nach Karaganda, die laut Alexander Solschenizyn „größte Provinzhauptstadt des Archipel Gulag“. Viele Russlanddeutsche wurden später dort interniert.

Eine Zeit lang gelang es ihrer Tochter Irina, den Kontakt zu halten und der Mutter Lebensmittel zu schicken.  Auf Nachfrage zur Revision des Falls 1940 aber hieß es, dass es eine Elsa Andrejewa „in Karlag nicht gibt“. Der Zusatz „nicht gab“ war durchgestrichen. Auf eine weitere Anfrage nach der offiziellen Todesursache habe man der Familie dann „Magenentzündung“ und „Malaria“ genannt, erzählt Rymko. „Als Ärztin behaupte ich, dass man zwar an Malaria sterben kann, aber wohl kaum an einer Magenentzündung. Die Oma war immer überzeugt, dass ihre Mutter verhungert war. Andere Häftlinge hätten ihr sicher das Essen weggenommen.“ Als die Familie dann alle Hoffnung aufgegeben hatte, dass die Mutter noch leben konnte, wurde das Haus verkauft.

Verfallene Geschichte

Dekchanow sichtet Papiere /Alina Ryazanova

Dekchanow sichtet Papiere /Alina Ryazanova

Rymko wollte durch das Haus und seine Umgebung lebendige Eindrücke vom Leben ihrer Vorfahren bekommen. Aber die Fahrt nach Moschajsk ist ihr schwer gefallen: „Für mich war es nicht einfach zu sehen, wie sich dieses Haus verwandelt hat, dass es so verfallen ist.“

Einen Teil der Familienfotos, die Verkaufsurkunde des Hauses, das Porzellangeschirr, die deutschen Postkarten und gestickte Servietten hat sie den Heimatkundlern für eine Ausstellung im örtlichen Kulturhaus überlassen. Das weitere Schicksal der Exponate ist aber weiter offen.

„Für die Geschichte Moschajsks sind solcher Häuser wichtig“, betont Dekchanow. „Unsere Mitbürger reisen gern nach Europa, sind begeistert von der historischen Architektur dort. Aber alte Gebäude in der Heimat nennen sie Gerümpel, dass abgerissen werden müsse, weil es für sie einfach wertlos ist. Wir wollen zeigen, dass es auch bei uns Kulturobjekte, gibt um die wir uns kümmern und auf die wir stolz sein müssen.“

Rymko ist das Haus selbst weniger wichtig, sondern vielmehr die Menschen. „Ihre Geschichten, ihr Schicksale. Ja, die Häuser verfallen mit der Zeit, aber die Geschichte der Menschen darf man nicht vergessen.“

Alina Ryazanova

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