Der Transsibirische Fußmarsch des Deutschen Jens Kwass

Er ist dann mal weg: Ein Deutscher aus dem Ruhrgebiet hat sich vorgenommen, das größte Land der Welt in ganzer Breite auf seinen zwei Beinen zu bezwingen: 10.450 Kilometer! Bis hinter Nischnij Nowgorod an der Wolga ist er schon vorgedrungen. In Wladiwostok will er Ende 2017 eintreffen – vorausgesetzt, dass ihn weder der Winter noch die Behörden ausbremsen.

Als seine Mutter aus der Heimat anruft, sitzt Jens Kwass gerade bei einem Espresso im „Café Gemütlichkeit“ über einem Supermarkt in Worsma, einer Kleinstadt rund 400 Kilometer östlich von Moskau. Er freut sich, dass er zur Abwechslung einfach drauflos plappern kann. Kwass, der lustigerweise so heißt wie ein russisches Getränk, ist inzwischen seit über zwei Monaten in Russland unterwegs, um sich einen Traum zu erfüllen: Er will das Land von dessen Westgrenze bis zum Pazifik zu Fuß durchqueren. Russisch spricht der 38-Jährige aus Recklinghausen dabei nicht, muss sich mit Händen und Füßen behelfen. Das klappt allen Unkenrufen zum Trotz ganz ordentlich: „Zu Hause hat man mir ja den Untergang vorausgesagt. Aber es ist alles kein Problem. Manchmal muss man die Leute einfach nur anlachen.“

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Anstrengend ist die Kommunikation oft trotzdem. Kwass hat schon die eine oder andere Einladung ausgeschlagen, um sich und seinen potenziellen Gastgebern das Radebrechen zu ersparen. Nur in der Stadt Staraja Russa bei Nowgorod konnte er einem Empfang zu seinen Ehren nicht entgehen. Und weil gerade der 22. Juni war, der 75.  Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941, erlebte er die traditionelle Gedenkveranstaltung am frühen Morgen mit, setzte wie die Einheimischen ein Papierschiffchen mit einer brennenden Kerze auf dem Wasser aus. „Er hat gesehen, was das für uns bedeutet“, sagt Sergej Kusmin, der Vorsitzende der Stadtduma. Man habe trotz aller Verständigungsprobleme eine gemeinsame Sprache gefunden. Und überhaupt: „Volksdiplomatie funktioniert immer noch am besten.“

 

Raus aus dem Arbeitsalltag

Auch Jens Kwass war früher einmal ein ganz normaler Berufstätiger. Elf Jahre hat er als Baumpfleger gearbeitet, ein Job, der ihm sehr gefiel. Doch irgendwann war er der täglichen Routine überdrüssig. Und während andere ihre Gedanken zum Thema „Man müsste mal …“ auf den nächsten Urlaub projizieren, plante Kwass den totalen Ausstieg. Fortan wollte er auf Wanderschaft und von der Wanderschaft leben, so heißt auch seine Webseite: Wanderleben.com.

Auf dem Jakobsweg hat Kwass vor ein paar Jahren bereits für Russland „geübt“ und 5.250 Kilometer in beide Richtungen per pedes geschafft. Danach machte er die Erfahrung, dass man auch mit Vorträgen Geld verdienen kann. So ähnlich stellt er sich die Einnahmenseite seiner jetzigen Reise vor. Zudem möchte er ein Buch schrei­ben, wenn er aus Wladiwostok zurück ist. Die bisherige Resonanz der Medien auf sein Mammutprojekt hat ihn ermutigt.

Der „Schrittmacher“ aus dem deutschen Westen ist bereits im vergangenen Jahr im Ruhrpott gen Osten aufgebrochen. In Polen hat er wegen des strengen Winters eine Pause eingelegt und in Deutschland überwintert, seinen Marsch im Februar wiederaufgenommen und am 1. Juni, von Estland kommend, die russische Grenze bei Iwangorod überquert. Nächste Fixpunkte waren St. Petersburg, Twer, Moskau und Wladimir. Kwass  folgt den großen Magistralen, einen Versuch mit Landstraßen im Gebiet Twer hat er prompt bereut: „Da läuft man Gefahr, dass man verhungert, so selten kommt man an Ortschaften und Lebensmittelläden vorbei.“

 

Lob dem russischen Autofahrer

Vorsichtshalber mit einer Signalweste bekleidet, fühlt sich Kwass nach  eigener Aussage „sehr sicher“, wenn er einen umgebauten Kinderwagen mit dem Gepäck über den Standstreifen schiebt, während die Lkw an ihm vorbeidonnern. Er vertraut den Russen, sie seien „gute Autofahrer“ und nähmen Rücksicht „auf mich Winzling“. Das habe ihn „total überrascht“. Auch für Kenner des bisweilen rabiaten russischen Autoverkehrs klingt das einigermaßen erstaunlich. Kwass, der ein Freund von Statistiken ist und sich mit alle möglichen Zahlen zu Russland auskennt, weiß um die prekäre Unfallquote. Seine eigenen Beobachtungen erklärt er sich so: „Ich habe gelesen, dass nahezu jede russische Familie im Verlaufe der letzten 25 Jahre einen Verkehrstoten oder -verletzten zu beklagen hatte. Daraus hat sich ein großer Respekt vor den Gefahren auf der Straße entwickelt.“

Was Jens Kwass an seinem Russland-Abenteuer besonders schätzt, ist die „Langsamkeit“, mit der er sich das Land erschließt. Die Tagesetappen sind im Schnitt um die 30   Kilometer lang. Danach schlägt der Deutsche auf Wiesen und hinter Büschen sein Zelt auf, wäscht sich, isst zu Abend, lässt sich Zeit. Er geht früh schlafen und steht früh auf, schon um den Großteil des Pensums vor der Mittags- und Nachmittagshitze zu absolvieren. In größeren Städten verbringt er gern auch mehrere Tage, schaut sich die Sehenswürdigkeiten an, aktualisiert seinen Blog und nutzt die kostenlose Übernachtung per Couchsurfing.

 

Draußen schlafen selbst im Winter

Kwass muss mit einem schmalen Budget auskommen. Großsponsoren für sein Vorhaben hat er einstweilen noch nicht. Ein Freund zahlt ihm die Krankenversicherung, weitere Unterstützer spendieren ihm 100 bis 200 Euro pro Monat. Seinen Tageshaushalt beziffert er auf 10 bis 15 Euro. Solange er davon nur Lebensmittel und das obligatorische Bierchen am Abend finanzieren muss, reicht das Geld. Wenn die kalte Jahreszeit anbricht und er sich zumindest hin und wieder ein Zimmer nehmen muss, wird es schwieriger. Aber Kwass geht bisher davon aus, dass er selbst bei Schnee und moderaten Minus­temperaturen dem Zelt den Vorzug geben wird, wenngleich er einräumt: „Der Winter, auf den ich sehr gespannt bin, wird mich sicher weit in die Knie zwingen.“ Schauergeschichten haben ihm die Russen diesbezüglich schon zur Genüge erzählt.

 

Bangen um das richtige Visum

Hier geht‘s lang: Auf einer Karte von Sibirien zeigt Jens Kwass seine Reiseroute. / Tino Künzel

Hier geht‘s lang: Auf einer Karte von Sibirien zeigt Jens Kwass seine Reiseroute. / Tino Künzel

10.450 Kilometer Wegstrecke hat der Wanderer für seine Tour von Iwangorod nach Wladiwostok berechnet. Schon heute, nach weniger als 2.000 Kilometern, glaubt er verstanden zu haben, dass Russland „viel normaler“ und „ganz anders“ ist, als er sich das „als ohnehin weltoffener Mensch“ in Deutschland ausgemalt hatte. Mit seinem Projekt würde Kwass gern zur deutsch-russischen Verständigung beitragen und auch als „kleiner Hampelmann was bewegen“. Aufsehen hat er in Russland schon häufig erregt. Sogar der erste Kanal des Staatsfernsehens drehte einen Bericht mit ihm für das Morgenmagazin.

Stolpern könnte Kwass nun allerdings über die Visahürden. Sein aktuelles Drei-Monats-Visum läuft Ende August aus, dann fliegt er von Kasan aus zunächst nach Deutschland zurück. Wie es anschließend weitergeht, ist noch ungewiss. Kwass hofft darauf, dass ihm die Russische Botschaft keine Steine in den Weg legt und ihm ein Jahresvisum ausstellt, er will sogar einen persönlichen Brief an Botschafter Wladimir Grinin in Berlin schreiben. Sollte er stattdessen nur ein Touristenvisum bekommen, ist das gesamte Unternehmen in Gefahr: „Ich kann es mir gar nicht leisten, alle paar Wochen zwischen Russland und Deutschland hin- und herzufliegen. Das ist auch aus praktischer Sicht nahezu unmöglich.“

Einen solchen Ausgang will er sich lieber gar nicht erst vorstellen. „Meine größte Herausforderung soll der russische Winter sein, nicht die Bürokratie. Daran darf es nun wirklich nicht scheitern. Das wäre viel zu billig.“ Unterdessen ist Jens Kwass in Nischnij Nowgorod angekommen. Er läuft und läuft und läuft.

 

 

Ein Novum?

Der deutsche Journalist Wolfgang Büscher ist vor mehr als einem Jahrzehnt von Berlin nach Moskau gelaufen und hat darüber ein Buch geschrieben. Russland hat, soweit man weiß, auf diese Art und Weise bisher niemand durchschritten, auch wenn bereits im 18. Jahrhundert Reisende wie der deutsche Entdecker Johann Georg Gmelin große Distanzen in Sibirien zurücklegten. Der Klassiker einer Tour durch das Land ist nach wie vor die Transsibirische Eisenbahn. Von Moskau nach Wladiwostok dauert die Fahrt sieben Tage.

 

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