
Platz wäre auch in der Breite. Aber in Russland, dem größten Land der Welt, hat man längst Gefallen daran gefunden, in die Höhe zu bauen. Nur in China, den Vereinigten Arabischen Emiraten und den USA gibt es noch mehr Wolkenkratzer. Von den zehn höchsten Gebäuden Europas befinden sich die meisten in Russland. Allein Moskau zählt inzwischen 20 Häuser über 200 Meter.

Von Rekord zu Rekord
Doch überragt werden sie alle vom Lachta Center in St. Petersburg, das 462 Meter misst. Es ist der Sitz des Energiekonzerns Gazprom und hat die Form einer stilisierten Gasflamme. Als Präsident Putin dort neulich eine Pressekonferenz abhielt, eröffnete er sie mit einem Scherz. An die Journalisten gewandt, sagte er: „Hat man Ihnen eine Führung durch dieses Gebäude angeboten? Willigen Sie bloß nicht ein.“ Andernfalls müsse man drei Stunden die Erzählungen von Gazprom-Chef Miller ertragen. „Er ist in das Haus verliebt. Sie werden sich aus seinen Klauen nicht losreißen können.“
Gazprom hatte 2023 nach einem Vierteljahrhundert erstmals wieder rote Zahlen geschrieben, wie einem Unternehmensbericht von Anfang Mai zu entnehmen war. Mitte Juni fielen die Aktien des Konzerns auf den tiefsten Stand seit Sommer 2013.
Nichtsdestotrotz wurde beim St. Petersburger Wirtschaftsforum Anfang Juni eine Vereinbarung zwischen der Stadtregierung und der Synergija AG über den Bau von weiteren Wolkenkratzern im Dunstkreis des Lachta Centers am Finnischen Meerbusen unterzeichnet. Ihre Höhe wird mit 703 und 555 Metern angegeben. Nach heutigem Stand wären sie damit das zweit- und das sechsthöchste Gebäude in der Welt. Die Fertigstellung ist für 2031 vorgesehen, wobei solche Daten oft nicht mehr als vage Anhaltspunkte darstellen.
Über Bauherr Synergija ist kaum etwas bekannt. Das Unternehmen soll 2020 gegründet worden sein, dürfte eng mit Gazprom verflochten sein. Denn es war der Gasriese, der das Projekt bereits 2021 vorgestellt hatte. Ein Jahr später war ein Vertrag mit der Stadtregierung über den Bau abgeschlossen worden. Die Vorarbeiten sind längst im Gange.
Gazprom an den Rand gedrängt
Die Randlage des Standorts im äußersten Nordwesten von St. Petersburg erinnert dabei an eine empfindliche Niederlage, die Gazprom in einem früheren Stadium einstecken musste. Ursprünglich sollte nämlich zentrumsnah gebaut werden. Deshalb hieß das Projekt nicht Lachta Center, sondern Ochta Center, nach einem Stadtbezirk vis-à-vis des Smolny. Obwohl für das Zentrum von St. Petersburg eine maximale Bauhöhe von 40 Metern gilt, um die historische Skyline zu wahren, hatten die Behörden den fast 400 Meter hohen Gazprom-Turm genehmigt.
Doch ein horizontaler Aufschrei brachte die vertikalen Dinge zu Fall. Gegen die Pläne begehrten große Teile der Öffentlichkeit auf. Kritik kam von Architekten, Künstlern und Oppositionsparteien. Auch zahlreiche prominente Stimmen wie die von Eremitage-Direktor Michail Piotrowski und dem damaligen Kulturminister Alexander Awdejew waren darunter. Schließlich wurde das Projekt von der Politik im Jahr 2010 gestoppt. Gazprom musste sich einen neuen Standort suchen.
Wolkenkratzer, die nie gebaut wurden
Anderen ambitionierten Projekten war in der Vergangenheit noch weniger Glück beschieden. In den 1930er Jahren sollte im Herzen von Moskau der höchste Bau der Welt entstehen: Der sogenannte Palast der Sowjets mit einer Höhe von 415 Metern war gleichzeitig als gigantisches Lenin-Denkmal gedacht. Um Platz dafür zu schaffen, wurde 1931 eigens die Christ-Erlöser-Kathedrale abgerissen. Doch nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion hatte man später andere Sorgen. Der bereits verbaute Stahl wurde bei der Errichtung strategisch wichtiger Brücken genutzt.
Auch nach dem Krieg lief nicht alles nach Plan. Mit den „Stalinschen Hochhäusern“, wie sie auf Russisch genannt werden, oder den „Seven Sisters“, wie Ausländer sie tauften, bekam Moskau ganz neue Höhe-Punkte. Die 1953 vollendete Lomonossow-Universität auf den Sperlingsbergen blieb mit ihren 240 Metern sogar bis 1990 das höchste Gebäude Europas. Doch eine achte „Stalin-Schwester“, die zentralste und mit 275 Metern höchste, wurde nach Stalins Tod nicht verwirklicht. Das Fundament nahe dem Roten Platz fand später beim Bau des riesigen Hotels „Rossija“ Verwendung.
Nichts wurde bereits in jüngerer Zeit aus einem 612 Meter hohen Wolkenkratzer namens „Rossija“, der eigentlich die architektonische Krönung des Geschäftsviertels Moskau-City werden sollte und vom Briten Norman Foster entworfen worden war. Dem Bauunternehmer Schalwa Tschigirinski ging in der weltweiten Finanzkrise 2008 das Geld aus. Auf dem Grundstück wurde dann eine Nummer kleiner gebaut.
Auf sich warten lässt bisher auch der „One Tower“ (443 m) in Moskau-City. Er sollte eigentlich schon fertig sein. Doch manchmal hängt die stolze Hoch-Konjunktur eben im Keller fest.
Tino Künzel