Wolgograd: Eine Stadt gegen das Vergessen

Im Rahmen des crossmedialen Projekts „Die Russland-Meister: Eine Leistungsschau der deutschen Wirtschaft“ startete die AHK Russland am 23. Mai eine WM-Rallye durch das Gastgeberland der Fußball-Weltmeisterschaft 2018. Drei VW Tiguan, die im russischen VW-Werk in Kaluga vom Fließband gelaufen sind, werden eine Strecke von fast 5.000 Kilometern abfahren. Mit an Bord sind zwei deutsche Autoren und ein Fotograf, die über Land und Leute berichten werden. Heute: Wolgograd.

Die 1967 errichtete „Mutter Heimat“ ragt 52 Meter gen Himmel. / /Foto: Hans-Jürgen Burkard.

In Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, haben sich Russen und Deutsche über den Gräbern des Weltkrieges versöhnt.

Wolgograd hat eine ganz eigene Geschichte – und wer sie mit einem Adjektiv versehen will, findet keines, welches den Horror der wohl schrecklichsten Schlacht des Zweiten Weltkrieges in einem einzigen Wort auch nur annähernd beschreiben würde.

Die heutige Millionenstadt an der Wolga hieß bis 1961 Stalingrad. Mehr als eine Million Menschen, Soldaten wie Bürger, ließen hier in der Winterschlacht 1942/43 ihr Leben. Die Greueltaten haben zu viele Spuren hinterlassen, um der geschundenen Stadt selbst nach über 70 Jahren bloß mit touristischer Wissbegier zu begegnen. Da lässt es sich nicht mit leichter Feder erzählen.

Die Stadt an der Wolga mit ihrer traurigen Vergangenheit ist für die Russen ein Wallfahrtsort der Erinnerung aber auch des patriotischen Stolzes auf den so teuer errungenen Sieg. Das erhabenste Sinnbild dafür beherrscht die höchste Erhebung der Heldenstadt, den Mamajew-Hügel. Die 1967 errichtete „Mutter Heimat“ ragt 52 Meter gen Himmel, 33 Meter misst das Schwert in ihrer rechten Hand. Unterhalb liegt die riesige, kreisrunde Ruhmeshalle, in der die ewige Flamme zum Gedenken an alle Gefallenen brennt.

1. Die vierköpfige Ehrenwache marschiert im Stechschritt zu ernster Musik. /Foto: Hans-Jürgen Burkard.

Die vierköpfige Ehrenwache – hochgewachsene „lange Kerls” in Paradeuniformen, marschiert im Stechschritt zu ernster Musik, unter anderem vom deutschen Komponisten Robert Schumann – eine erste Begleitmusik für die Versöhnung, die Russen und Deutschen trotz des deutschen Vernichtungsfeldzuges in den vergangenen Jahrzehnten gelungen ist.

Seit 1988 gibt es eine lebendige Städtepartnerschaft zwischen Köln und Wolgagrad. Im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft spielten Jugendmannschaften aus Deutschland und Russland gegeneinander, DFB-Präsident Reinhardt Grindel reiste eigens dazu an. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hielt als Außenminister mehrere Vorlesungen an der Wolgograder Universität. Immer wieder reichen sich deutsche und russische Spitzenpolitiker über den Weltkriegsgräbern die Hände.

Ein gutes Stück außerhalb der Stadt, in einer Landschaft von trostloser Unendlichkeit, ist der russisch-deutsche Soldatenfriedhof Rossoschka angelegt. Hunderttausende Soldaten haben hier ihre letzte Ruhe gefunden. Selbst im Zentrum Wolgograds mahnen die Ruinen des „Pawlow-Hauses“, eines der wenigen, das noch an das alte Stadtbild erinnert. Drumherum gruppiert steht Kriegsmaschinerie beider Gegner, die endlich und nun schon lange schweigt. Sie ließ hier Anfang der Vierzigerjahre des letzten Jahrhunderts so gut wie keinen Stein mehr auf dem anderen. Lediglich der Feuerwehrturm von 1897 reckt sich noch unbeschadet gen Himmel.

Ein gepflasterter Weg führt zunächst am alten Wehrmachtfriedhof vorbei zum Zentralen Gedenkplatz mit einem Hochkreuz aus Metall und dann zum neuen Sammelfriedhof für deutsche Gefallene. /Foto: Hans-Jürgen Burkard.

Weite Teile der Metropole wirken nach dem raschen Wiederaufbau fast wie ein Museum typisch stalinistischer Architekturvarianten, bombastisch, grau und langweilig. Dazu passt die Mehrzahl der Straßennamen – von „Lenin“ bis „Straße der Helden“. Immerhin sprießen heute hier und da auch ansehliche, modernere Hoch- und Wohnbauten wie Pilze aus dem Boden – Sinnbild dafür, dass eine neue Generation längst begonnen hat, eine glücklichere Zukunft zu bauchen.

Begegnungen in Wologograd haben dann immer wieder mit den dunkleren Zeiten der Stadt zu tun. Walentina Uskowa ist eine stattliche, elegant gekleidete Dame. Wenn sie spricht, klingt ihre Stimme fest und viel jünger, als sie tatsächlich ist. Lächeln und Lachen tut sie oft und gern. Nein, so gut wie nichts an ihr mag auf ein gänzlich unverschuldetes Schicksal hindeuten, das leicht zu Melancholie, ja lebenslangen Depressionen hätte führen können. Die 76-jährige ist eine starke Frau.

Als Geburtsort steht „Stuttgart“ in ihrem russischen Pass, als Geburtsjahr 1942. Ihre Mutter war dort für Jahre eine von der deutschen Wehrmacht aus Russland verschleppte Zwangsarbeiterin in einer kriegswichtigen Kugellagerfabrik. Walentina war erst drei Jahre alt und gehörte zu den nur 400 Überlebenden, die bei Kriegsende nach Stalingrad zurückkehrten. Für die meisten über 18-Jährigen ging der unmenschliche Terror aber gleich weiter – im eigenen Land: Sie wurden als „Kollaborateure“ gebrandmarkt und verschwanden in den Arbeitslagern irgendwo im weiten Osten Russlands.

Walentina Uskowa betreut seit Jahren drei Dutzend uralte Leidensgenossen, allesamt ehemalige Zwangsarbeiter wie einst ihre Mutter. /Foto: Hans-Jürgen Burkard.

Walentinas Mutter wurde kurz nach der Rückkehr vom Blitz erschlagen, die kleine Walentina von einer Militärarzt-Familie aufgenommen. Die Verwandten ihrer Mutter wollten nichts mit ihr zu tun haben. Mit ihrer Ersatzfamilie zog sie 1956 in die Ukraine, wurde Schlosserin, mit 18 heiratete sie und arbeitete später als Kindergärtnerin. Ihr Mann war Pilot, die Ehe nicht immer glücklich. 1999 zogen sie nach Wolgograd, irgendwie ja auch die passende Kulisse ihres vom Zweiten Weltkrieg geprägten Lebensweges. Walentinas Mann starb, ihr Sohn war schon zehn Jahre zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Immerhin erfreut sie sich heute an fünf Enkeln und schon zwei Urenkeln, die allerdings über das ganze Land verteilt leben.

Wenn Walentina Uskowa hervorstechende, menschliche Eigenschaften nachzusagen sind, dann sind das sicher ihre große Fähigkeit zu verzeihen, ihr unbändiger Lebensmut und ihre Hilfsbereitschaft. Seit Jahren betreut sie drei Dutzend uralte Leidensgenossen, 25 davon bettlägerig und krank. Sie sind allesamt ehemalige Zwangsarbeiter, die erst deutsche Verschleppung und dann russische Verleumdung durchgemacht haben und die nun auch mit Hilfe eines Vereins aus der Partnerstadt Köln von Walentina und Sozialarbeiterinnen betreut werden, die einkaufen, die Miete bezahlen und Arztbesuche organisieren.

Walentina Uskowa erzählt Kindern und Jugendlichen in Schulen und Vereinigungen aus ihrem bewegten Leben: „Ohne Schuldzuweisungen oder böse Gefühle“, wie sie sagt. Wenn so manche verstörende Erinnerung über sie herfällt, dann fängt sie sich selbst auf. Sie schreibt gut und gern Gedichte – immer letztendlich mit aufbauenden Gedanken und Botschaften. Einige sind schon zu einem Buch geworden, „Die Wolga brennt“.

Am Ende des Gesprächs schaut Walentina Uskowa ihrem Gegenüber schmunzelnd in die Augen und intoniert die ersten Worte eines deutschen Volksliedes: „Weiße, kleine Friedenstaube, fliege übers Land…“

Frank Ebbecke

 

 

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