Welche „Wahrheit“ deutsche Kriegsgefangene über Sowjetrussland lasen

Als 1945 der Zweite Weltkrieg endete, befanden sich nahezu zwei Millionen deutsche Kriegsgefangene auf sowjetischem Boden. Ihnen wollte man in Moskau die Augen öffnen, gegen was für ein Land sie da eigentlich gekämpft hatten. Deshalb wurde in den Kriegsgefangenenlagern eine Schrift mit dem Titel „Die Wahrheit über Sowjetrussland“ verteilt. Nachfolgend Auszüge aus dem ersten Kapitel.

Deutsche und rumänische Kriegsgefangene in einem Lager irgendwo in Sowjetrussland. (Foto: waralbum.ru)

Millionen Deutsche und Österreicher waren während des Krieges in Sowjetrussland. Millionen werden vielleicht einmal sagen: „Ich bin in Russland gewesen, ich kenne es.“ Aber haben tatsächlich die Männer und Jünglinge, die mit dem Hitlerheer nach Sowjetrussland geworfen wurden, dieses Land kennengelernt? Mit welchen Vorstellungen waren sie nach Russland gekommen und was haben sie erlebt, erkannt?

Als Eroberer auf russischem Boden

Viele Jahre hindurch hämmerte die antibolschewistische Propa­ganda in die Köpfe der deutschen Menschen Vorstellungen ein von der Minderwertigkeit der Russen (wie der Slawen überhaupt), von der Unhaltbarkeit und Nichtexistenzberechtigung der sowjetischen Gesellschaftsordnung. Diese Propaganda war ein Teil der Vorbereitung der Nazipartei zu dem kommenden zweiten Weltkrieg. Später gestand es die Nazipropaganda ganz offen: Es ging darum, den Krieg, der 1914 im Interesse der deutschen Imperialisten begonnen und 1918 verloren wurde, wiederaufzunehmen und diesmal zu gewinnen.

Der Vorbereitung dieses neuen imperialistischen Krieges diente auch die ganze Rassentheorie, der zufolge die deutsche Nation allein dazu berufen sei, die Welt zu beherrschen. Der stark ausgebauten Nazipropaganda fehlte es nicht an Mitteln, Kräften, Erfindungsgabe und Niedertracht, um dem Rassenwahn ein Mäntelchen der Sachlichkeit überzuwerfen.

Mehr oder weniger mit diesen antisowjetischen Vorstellungen ausgerüstet, betrat der Hitlersoldat den russischen Boden. Betrat ihn als Eroberer. Die vorhergegangenen leichten Siege in Westeuropa verstärkten in dem Nazizögling nur noch den Glauben an sein „Herrenmenschentum“. Die erste unsaubere Toilette in Russland genügte ihm als „Beweis“ für das „Untermenschentum“ der Russen.

„Gewaltiger Wandel“

Die reiferen, älteren Soldaten und Offiziere, besonders solche, die sich in der vorhitlerischen Zeit einiges Wissen über die Sowjetunion angeeignet hatten oder gar in Russland gewesen waren, blickten tiefer. Ihnen fiel zunächst das gewaltige Wachstum der Sowjet­union in den letzten Jahren auf. Die wenigen älteren Wehrmachtsangehörigen, die schon den ersten Weltkrieg an der Ostfront durchgemacht hatten, mussten den gewaltigen Wandel feststellen, der seitdem in diesem Lande eingetreten war. Zwar sahen sie, die den Krieg ins Land gebracht hatten, zerschossene Städte, zerstörte Bauten und Betriebe, vernichtete Dörfer und verwüstete Felder, aber die Spuren einer großzügigen Aufbautätigkeit der Sowjetregierung waren überall unverkennbar. Neue Betriebe, schöne öffentliche Bauten in den Städten, Theater, Krankenhäuser, Kunstdenkmäler, alle möglichen Forschungsinstitute und Anstalten – das fiel jedem ins Auge. […]

So sieht nicht ein Land aus, wo allgemeine Armut, Chaos, Unzufriedenheit und Aufruhr herrschen, musste sich jeder Unvoreingenommene sagen. Aber die Mehrheit der Soldaten fragte nicht viel. Sie war schnell mit ihrem Urteil fertig. […]

Viele gingen an die Dinge in Russland rein äußerlich heran. Sie sahen in erster Linie schlechte Straßen, strohgedeckte Bauernhäuser, einen Mangel an Komfort und das Fehlen dieser oder jener Bequemlichkeit. Sie fragten: Warum diese primitive Wohnungseinrichtung und einfache Kleidung? Woher die mangelnde Gepflegtheit der Menschen und Dinge? […]

„Rückständiges“ Zarenreich

Um das heutige Sein Sowjetrusslands zu verstehen, muss man sein Woher und Wohin kennen, muss wissen, aus welcher Vergangenheit es kommt und zu welcher Zukunft es hinsteuert. Was war das alte zaristische Russland? Gewiss, nach Deutschland kamen aus Russland Spitzenleistungen der Kultur wie großartige Musik (Glinka, Mussorgski, Tschaikowski u.a.), bedeutende literarische Werke (Turgenjew, Dostojewski, Tolstoi, Gorki u.a.), hervorragende Theater- und Ballettgastspiele, erstklassige wissenschaftliche Entdeckungen und Erfindungen wie die des Chemikers Mendelejew, des Mathematikers Lobatschewski, des Physiologen Pawlow u.a.m. Aber im Großen und Ganzen war das riesige Zarenreich ein rückständiges Land. […]


Nicht Fritz, sondern Frida

Trotz einstweiliger Mangelerscheinungen: Die sowjetische Gesellschaftsordnung ist dem „alten Deutschland“ überlegen. So konnten es deutsche Kriegsgefangene in „Die Wahrheit über Sowjetrussland“ lesen. Angeblich hat das einer von ihnen geschrieben. Im Vorwort zu der Broschüre heißt es: „Die erste Auflage dieses Buches erschien im Frühling 1944 in Moskau. Ein deutscher Soldat, der Sowjetrussland als Kriegsgefangener erlebte, ist der Verfasser.“

Als Autor wird „Fr. Lang“ genannt. Dahinter verbarg sich aber kein Soldat, kein Fritz, wie man wohl vermuten sollte, sondern Frida Rubiner (1879-1952). Die deutsche Schriftstellerin und Übersetzerin lebte von 1929 bis 1946 in der Sowjetunion, gehörte im Krieg der politischen Hauptverwaltung der Roten Armee an und leitete das Umschulungsprogramm für Kriegsgefangene. Zuletzt war sie Dekanin an der Parteihochschule beim ZK der SED in Berlin/Liebenwalde. 


In der geschichtlich kurzen Zeitspanne von einem Vierteljahrhundert wurde Grandioses geleistet. Aber der sozialistische Sowjetstaat ist noch nicht als etwas Fertiges, Abgeschlossenes zu betrachten. Er ist im Werden begriffen. (Von dem jähen Einschnitt, den der Krieg in dieser Entwicklung gemacht hat, sei hier nicht einmal die Rede.)

„Zeitweiliger Verzicht auf Bequemlichkeiten“

„Ja, aber“, wird der Abersager erwidern, „Russland als sozialistischer Staat müsste doch vor allem das Wohl seiner Bürger im Auge haben. Warum baut man Kulturpaläste, während es noch an Gebrauchsgegenständen für die große Masse der Bevölkerung fehlt?“ Und noch ein anderer wird sagen: „Tja, das ist eben der rote Imperialismus – mächtige Metallwerke, in denen man Rüstung und Munition erzeugen kann anstatt Textilien und Schuhzeug; Schwer­industrie statt Ausbau der Leicht­industrie mit all dem, was das Leben lebenswert macht. Der russische Mensch ist eben anspruchslos, und das ist gerade ein Zeichen seiner Unkultur.“

Wer so redet, der zeigt, dass er die Wirklichkeit entweder nicht begreifen kann oder nicht begreifen will. Die Bedürfnisse der Männer, die das zaristische Russland niederrissen, um im Dienste des Volkes den neuen, freien Sowjetstaat aufzurichten, waren nicht geringer, sondern im Gegenteil viel weiter gespannt als die, sagen wir, der Deutschen, die 1941 nach Russland ausgezogen waren, um sich hier an den „Fettnapf“ zu setzen. Aber gerade weil ihre „Ansprüche“ darauf gerichtet waren, ihrem Volke Freiheit, Wohlstand und Glück zu verschaffen, verzichteten sie zeitweilig auf gewisse Bequemlichkeiten, um viel Größeres, Beglückenderes zu erreichen.

Schwerindustrie vor Leichtindustrie

Die siegreiche Sowjetrevolution legte die Bahn frei. Von Jahr zu Jahr stieg der Lebensstandard des Volkes. Aber das Sowjetland stand vor der Wahl: entweder immer weiter nur für die Verbesserung der Lebenshaltung des Volkes zu sorgen, die Leichtindustrie zu forcieren, um den Massen möglichst viel Komfort zu verschaffen, oder aber – unter stetiger Hebung der Lebenshaltung – bedeutende Mittel der Schwerindustrie zuzuwenden, das Land zu industrialisieren und somit auch die Sowjetindus­trie selbstständig und vom  Ausland unabhängig zu machen. Der zweite Weg erfordert Entbehrungen und Opfer.

Es war klar, dass die rasche Befriedigung mancher Alltagsbedürfnisse für eine Zeitlang zurückgestellt werden musste, damit zuerst die Schwerindustrie – die Basis für alle weitere Produktion und auch für die Rüstungsproduktion – gesichert werde. Es war klar, dass für den Bestand des Landes und das Fortgedeihen des Volkes in erster Linie nicht Möbelfabriken, Strumpfwirkereien, Töpfereien usw. notwendig waren, sondern eben die Industrialisierung. Diese wurde von Sowjetrussland glänzend durchgeführt.

Nach drei Jahren Krieg musste auch der Blinde in Deutschland einsehen, dass die Rote Armee der deutschen Wehrmacht überlegen ist an Technik, an der Menge und Güte der Waffen. Aber Waffen ohne Menschen sind tote Dinge. Es zeigte sich die gewaltige Überlegenheit der russischen Führung, der russischen Strategie und der im Sowjetgeiste erzogenen Soldatenmasse.

„Das fortgeschrittenste Land der Welt“

Aber der Krieg ist ja nur ein Spiegelbild des Landes. Es zeigte sich, dass Sowjetrussland viel weiter ist als das alte Kulturland Deutschland. Sein sozialpolitisches Regime stellt eine andere, neue geschichtliche Entwicklungsstufe dar. Sowjetrussland baut eine großartige Kultur auf und erstrebt die Hebung des Niveaus des ganzen Volkes, während die Nazis die Kultur zerstören. Bei wissenschaftlichen und technischen Glanzleistungen kann das heutige Sowjetrussland mit jedem modernen Staat die Waage halten. Was Sowjetrussland noch fehlt – die Mängel und Lücken der äußeren, materiellen Kultur –, wird sich sehr schnell einholen lassen. Nach diesem Kriege wird Sowjetrussland zweifellos in jeder Hinsicht das fortgeschrittenste Land der Welt sein.

All das muss verstanden werden, damit der Deutsche, der nach Sowjetrussland kommt, sich in den neuen Verhältnissen zurechtfindet und sich ein Urteil bilden kann. Um Sowjetrussland zu verstehen, gehört aber auch dazu, dass der Deutsche sich von den ihm von der Nazipropaganda aufgezwungenen Vorstellungen frei macht, mit offenen Augen sieht und mit klarem Kopfe denkt. Dann werden ihm auch die russischen Menschen anders erscheinen als die Zerrbilder, die „Untermenschen“, von denen die Goebbelspropaganda faselte.

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: